III. Die Ermittlung von Verfahren und Gerichtsentscheidungen

 

B. Die ostdeutschen Urteile – DDR-Justiz und NS-Verbrechen

III. Die Ermittlung von Verfahren und Gerichtsentscheidungen

Der Wert einer Sammlung von Gerichtsentscheidungen, die einen Überblick über die juristischen und zeitgeschichtlichen Aspekte der NS-Verbrechen und ihrer Ahndung ermöglichen soll, hängt wesentlich von ihrer Vollständigkeit ab. Damit der Benutzer sich ein Urteil darüber bilden kann, inwieweit dieses Erfordernis erfüllt werden konnte, soll zunächst dargelegt werden, auf welche Weise die einschlägigen Verfahren ermittelt worden sind, und wie die ergangenen Entscheidungen für diese Sammlung erworben wurden.

1. Die Ermittlung der Verfahren

Lange fehlte den Justizbehörden der DDR eine zuverlässige Übersicht über die in ihrem Geschäftsbereich seit dem Jahre 1945 wegen NS-Straftaten durchgeführten Verfahren. Ähnlich wie in Westdeutschland wurde erst Anfang der sechziger Jahre Abhilfe geschaffen. Die Bezirksstaatsanwaltschaften ermittelten rückwirkend bis 1945 die durchgeführten Verfahren und meldeten diese mittels eines für jeden Angeklagten auszufüllenden einheitlichen Formblattes der Generalstaatsanwaltschaft der DDR, die daraus eine Zentralkartei bildete. Diese sog. ‚Verurteiltenkartei des Generalstaatsanwalts der DDR‘, die auch die Namen von Angeklagten enthält, die freigesprochen oder deren Verfahren eingestellt worden sind, umfasst über 16.000 Personen und gibt u.a. Aufschluss über die abschliessende rechtskräftige Entscheidung sowie über Urteilsspruch, Tatort, Tatzeit, Dienststelle und die zur Anklage führende Tat. Diese Kartei war den Bearbeitern die wichtigste Quelle zur Ermittleung der in der SBZ/DDR wegen NS-Tötungsverbrechen durchgeführten Strafverfahren.

Zusätzlich wurden einschlägige Veröffentlichungen, behördeninterne Übersichten und Studien des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR und die im Amsterdamer Institut für Strafrecht vorliegende, bis auf das Jahr 1962 zurückgehende Sammlung deutscher Pressemitteilungen zu NS-Verfahren ausgewertet. Weiter wurde Hinweisen auf ostdeutsche Verfahren in ost- und westdeutschen Urteilen nachgegangen und es wurden ehemalige Mitarbeiter der ostdeutschen Justiz und des Ministeriums für Staatssicherheit befragt. Auch die einzige von der DDR veröffentlichte Übersicht über Verfahren wegen NS-Verbrechen[8] wurde herangezogen. Diese enthält zwar eine nicht unbeachtliche Zahl von Fehlern[9] und bietet eine in mehrfacher Hinsicht recht begrenzte Auswahl[10], zehn in der Zentralkartei des GStA DDR nicht enthaltene Verfahren konnten aber dank dieser Broschüre ermittelt werden[11]. Andere Quellen brachten 37 weitere in der Zentralkartei nicht enthaltene Verfahren[12] ans Tageslicht. Darunter befanden sich der durch Gustav Radbruch bekannt gewordene Fall Puttfarcken[13] sowie 13 zu lebenslänglich und 9 zum Tode Verurteilte.

2. Die Ermittlung und Sammlung der einschlägigen Entscheidungen

Damit waren im Rahmen der durch die zur Verfügung stehenden Quellen gebotenen Möglichkeiten die in der SBZ/DDR durchgeführten Verfahren wegen NS-Verbrechen ermittelt worden. Eine Übersicht über die einschlägigen Gerichtsentscheidungen war damit indessen nicht gegeben. Denn alle Quellen beschränken sich auf die – mehr oder weniger korrekte – Bezeichnung des letzten, rechtskräftigen Urteils. Hinweise auf Rechtsmittelgerichtsentscheidungen der Oberlandesgerichte bzw. des Obersten Gerichts der DDR fehlen fast immer: ebenso solche auf frühere, in dem jeweiligen Verfahren ergangene, ganz oder teilweise auf¬gehobene Urteile der Land- bzw. Bezirksgerichte. Auch konnte an Hand der in den Quellen enthaltenen Informationen nicht immer mit Sicherheit festgestellt werden, ob es sich beim abgeurteilten Sachverhalt um NS-Verbrechen mit Todesfolge handelte.

Deshalb wurden in allen Fällen, in denen sich auf Grund der Darstellung des abgeurteilten Sachverhalts, der Höhe der verhängten Strafe, des aburteilenden Gerichts[14] oder wegen sonstiger Hinweise Anhaltspunkte dafür ergaben, dass es sich um ein Verfahren wegen NS-Verbrechen mit Todesfolge handeln könnte, sämtliche in den jeweiligen Verfahren ergangene Gerichtsentscheidungen angefordert. Dementsprechend wurden über 1150 Verfahren gegen fast 2000 Personen überprüft. Bei 932 Verfahren gegen insgesamt 1641 Personen bestätigte sich die Annahme, dass es sich um Verfahren wegen NS-Verbrechen mit Todesfolge handelte. Der Veröffentlichung der in diesen Verfahren ergangenen rund 1660 Gerichtsentscheidungen widmet sich diese Urteilssammlung.

Die Nachforschungen fanden primär in den Archiven des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR statt. Dieses Ministerium hatte nicht nur seit Mitte der fünfziger Jahre einen Grossteil und seit Mitte der sechziger Jahre die Gesamtheit der Ermittlungen in NSG-Verfahren geführt, sondern auch tausende einschlägige Strafakten aus den vorhergehenden Jahren von den Staatsanwaltschaften übernommen. Viele Jahre suchte das Referat AU.II.2 des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) nach den Gerichtsentscheidungen aus den von der Redaktion benannten Verfahren – und brachte über 80% der ergangenen Gerichtsentscheidungen ans Tageslicht.

Für die sodann noch fehlenden Urteile wandte die Redaktion sich an die Landes(haupt)archive der neuen Bundesländer und an die Bibliothek des Bundesgerichtshofes, während im Bundesarchiv in Berlin eine umfangreiche Aktenforschung ermöglicht wurde. Schliesslich suchte und fand die Redaktion die Unterstützung der Landesjustizbehörden von Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, der dortigen Staatsanwaltschaften und einiger Gerichte. Sie lieferten der Redaktion vor allem Entscheidun¬gen aus den nach 1990 durchgeführten Rehabilitierungsverfahren.

Trotz dieser umfangreichen Hilfe durch 40 Behörden und Archive konnten nicht alle Gerichtsentscheidungen aufgefunden werden. Zwar wurde die Suche nach fehlenden Verfahren und Gerichtsentscheidungen bis kurz vor Erscheinen des letzten Urteilsbandes fortgesetzt und hat bei 27 Verfahren, die als Nachtragsverfahren im XIV.Band veröffentlicht worden sind, auch zum Erfolg geführt. Hinsichtlich 4,8% der Angeklagten fehlen aber alle Entscheidungen bzw. sind diese so bruchstückhaft erhalten, dass eine Veröffentlichung unterbleiben musste. In 33 - veröffentlichten - Verfahren fehlt ein Teil der ergangenen Entscheidungen.


[8] Die Haltung beider deutschen Staaten zu den Nazi- und Kriegsverbrechen. Berlin 1965.

[9] Des öfteren fehlen einige der in den erwähnten Verfahren Angeklagten, es werden unrichtige Urteilsdaten genannt, die Sachverhaltsbeschreibung ist lückenhaft, etc.

[10] Von den Verfahren wegen NS-Tötungsverbrechen bleiben in dieser Broschüre 78% unerwähnt.

[11] Verfahren Nr. 1077, 1082, 1099, 1201, 1214, 1280, 1282, 1440, 1518, 1570.

[12] Verfahren Nr.1001, 1005, 1006, 1007, 1012, 1013, 1054, 1056, 1095, 1104, 1218, 1234, 1412,1455, 1483, 1484, 1488, 1539, 1549, 1555, 1616, 1630, 1636, 1654, 1670, 1699, 1709, 1751, 1758, 1785, 1800, 1803, 1811, 1816, 1825, 1836, 1838.Verfahren Nr.1001, 1005, 1006, 1007, 1012, 1013, 1054, 1056, 1095, 1104, 1218, 1234, 1412,1455, 1483, 1484, 1488, 1539, 1549, 1555, 1616, 1630, 1636, 1654, 1670, 1699, 1709, 1751, 1758, 1785, 1800, 1803, 1811, 1816, 1825, 1836, 1838.

[13] ‚Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht‘, SM 1946 S.105 ff. Siehe Verfahren Nr.1838.

[14] Schwurgericht bzw. grosse Strafkammer des Landgerichts in den Verfahren nach Befehl 201.

 

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