I. Die Veröffentlichung der ostdeutschen Urteile wegen NS-Tötungsverbrechen

 

B. Die ostdeutschen Urteile – DDR-Justiz und NS-Verbrechen

Kernzahlen der ostdeutschen Verfahren wegen NS-Tötungsverbrechen[1]

Unter den vielen tausenden ostdeutschen Verfahren wegen NS-Verbrechen sind 932 Verfahren ermittelt worden, die sich mit NS-Tötungsverbrechen befassen'. Bei 841 dieser Verfahren handelt es sich um reguläre Verfahren, bei den übrigen 91 Verfahren um sog. Waldheim-verfahren.

In den 841 regulären Verfahren ergingen 1510 Gerichtsentscheidungen gegen insgesamt 1550 Angeklagte.

Von diesen Angeklagten wurden 6% (94) zum Tode, 8% (123) zu einer lebenslänglichen und 69% (1070) zu einer zeitigen Freiheitsstrafe verurteilt. Sühnemassnahmen ohne Freiheitsentzug gem. der Kontrollratsdirektive Nr.38 wurden gegen 1% (20) der Angeklagten verhängt. Straffrei blieben 15% (241) der Angeklagten; sie wurden freigesprochen oder das Verfahren gegen sie wurde eingestellt. In zwei Fällen konnte der Ausgang des Verfahrens nicht ermittelt werden.

In den 91 Waldheimverfahren ergingen 149 Gerichtsentscheidungen gegen 91 Angeklagte. Von ihnen wurden 26% (24) zum Tode, 34% (31) zu einer lebenslänglichen und 40% (36) zu einer zeitigen Freiheitsstrafe verurteilt. Freisprüche oder Verfahrenseinstellungen gab es in diesen Verfahren nicht. Auch wurden keine Sühnemassnahmen ohne Freiheitsentzug verhängt.

 

I. Die Veröffentlichung der ostdeutschen Urteile wegen NS-Tötungsverbrechen

Die Urteilssammlung DDR-Justiz und NS-Verbrechen enthält die seit dem Ende des zweiten Weltkrieges ergangenen Entscheidungen wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen jener deutschen Gerichte, die – von 1945 bis 1949 – in der Sowjetischen Besatzungszone und – von 1949 bis 1990 – auf dem Territorium der Deutschen Demokratischen Republik tätig waren. Sie bildet das Gegenstück zur westdeutschen Urteilsserie Justiz und NS-Verbrechen.

Die Versuche, die ostdeutschen Urteile zu veröffentlichen, gehen auf das Jahr 1966 zurück. Damals wurde beabsichtigt, sie zusammen mit den westdeutschen Entscheidungen in der Serie 'Justiz und NS-Verbrechen' erscheinen zu lassen. Dies scheiterte jedoch an der Weigerung der Führung der DDR, die Urteile zu überlassen. Wahrscheinlich sagte ihr – von ihrer Warte gesehen nicht ganz unverständlich – der Gedanke, die ostdeutschen Urteile zusammen mit den von ihr regelmässig scharf kritisierten westdeutschen Entscheidungen in einer Serie zugänglich zu machen, nicht zu. Nachdem die DDR aufgehört hatte zu existieren, wurde 1994 ein zweiter Versuch unternommen. Die Urteilssammlung DDR-Justiz und NS-Verbrechen ist das Ergebnis der daraufhin einsetzenden und jetzt mit diesem Register- und Dokumentenband abgeschlossenen Bemühungen, die durchgeführten Verfahren ausfindig zu machen und die darin ergangenen Gerichtsentscheidungen zu veröffentlichen.

Die Urteile dokumentieren die mehrere Jahrzehnte andauernde Reaktion der ostdeutschen Justiz auf die in einem vorangegangenen Herrschaftssystem begangenen Verbrechen und damit die Art und Weise, wie diese Strafjustiz sich bemüht hat, mit qualitativ und quantitativ aussergewöhnlichen Verbrechen fertig zu werden.

Ihre Veröffentlichung bietet aber auch die Grundlage für einen Vergleich zwischen der ostdeutschen und der westdeutschen Ahndung von NS-Tötungsverbrechen. Die Verschiedenheit der politischen Systeme und gesellschaftlichen Verhältnisse beider deutschen Staaten ist unübersehbar. Auch die Rechtslage war nicht identisch: In Westdeutschland wurde hauptsächlich nach deutschrechtlichen Tatbeständen abgeurteilt, in Ostdeutschland jedoch in den weitaus meisten Fällen auf der Grundlage völkerrechtlicher und besatzungsrechtlicher Tatbestände (Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Straftaten der Kontrollratsdirektive Nr.38) geahndet. Wie hat sich das auf die Schwerpunkte und die Intensität der Strafverfolgung von bestimmten Deliktsarten oder Tätergruppen (wie Richter, Ärzte, Wehrmacht und Wirtschaft), auf die Akzeptanz von Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe (wie höherer Befehl und Befehlsnotstand), auf die Zahl der Freisprüche oder die Höhe der Strafzumessung und die Art der Sanktionen (z.B. auf die Vermögenseinziehung gem. Art.3 KRG Nr.10) ausgewirkt?

Die Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen – und damit der generellen Frage, ob die ostdeutsche und die westdeutsche Ahndung tatsächlich weit auseinander gehen oder ob sie trotz der Verschiedenheit der politischen Systeme, gesellschaftlichen Verhältnisse und der Rechtslage einander im Ergebnis doch ziemlich ähnlich sind – wird durch die Veröffentlichung der ostdeutschen Ahndungsergebnisse nunmehr wesentlich erleichtert. Dabei sind sogar fallbezogene Vergleiche möglich, da Angehörige einer Tätergruppe für die selben von dieser Gruppe begangenen Verbrechen zum Teil in West- und zu einem anderen Teil in Ostdeutschland abgeurteilt worden sind.[2]

Und schliesslich verschafft die Veröffentlichung der nach 1990 ergangenen Entscheidungen in Rehabilitierungsverfahren nicht nur Einsicht in das, was die Justiz des wiedervereinigten Deutschland als rechtsstaatswidrig erachtet, sondern auch in die Rechts- und Wertvor¬stellungen dieser Justiz in bezug auf NS-Verbrechen und ihre Ahndung.


[1] Aus: DDR-Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung ostdeutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen. Register und Dokumente. (Amsterdam/München 2010), IX, 3-10, 325.

[2] Siehe Verfahrensübersichten – Deutsch-Deutsche Verfahren.

 

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