Justiz und NS-Verbrechen Bd.XL

Verfahren Nr.813 - 830 (1974 - 1976)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.830c BVerfG 16.04.1980 JuNSV Bd.XL S.869

 

Lfd.Nr.830c    BVerfG    16.04.1980    JuNSV Bd.XL S.875

 

Das Bundesverfassungsgericht hat - wie oben dargelegt - in dem Urteil über die lebenslange Freiheitsstrafe (BVerfGE 45, 187) beispielhaft die möglichen Auslegungswege beschrieben, die auch dort, wo die lebenslange Freiheitsstrafe absolut angedroht ist, im Einzelfall zu einer schuldangemessenen Bestrafung führen können. Dabei muss keineswegs bei der Frage der Auslegung und Fortentwicklung strafrechtlicher Schuldmilderungsgründe angesetzt werden. Von Verfassungs wegen sind keine Gesichtspunkte ersichtlich, die es zwingend gebieten würden, zur Verwirklichung des Schuldgrundsatzes und zur Einhaltung des Verhältnismässigkeitsgebots das Strafrechtssystem im Wege der Rechtsfortbildung durch einen generellen Schuldmilderungsgrund "der Verstrickung in ein Unrechtssystem" zu ergänzen. Das Bundesverfassungsgericht hat stets anerkannt, dass den obersten Gerichtshöfen des Bundes auf den ihnen zugewiesenen Fachgebieten die Aufgabe und die Befugnis zur Weiterbildung des Rechts zukommt (vgl. BVerfGE 34, 269 287 f. - Soraya - m.w.N.). Den Grossen Senaten der obersten Gerichtshöfe des Bundes hat der Gesetzgeber selbst die Aufgabe der "Fortbildung des Rechts" ausdrücklich übertragen (so z.B. §137 GVG). Ihnen steht daher die letzte Entscheidung darüber zu, ob und gegebenenfalls in welcher Weise auf dem ihnen zugewiesenen Sektor das Recht fortzubilden ist. Wenn der Bundesgerichtshof aus vertretbaren Gründen, die strafrechtlicher Natur sind, die Rechtsmeinung des Schwurgerichts zur Schuldminderung nicht zu billigen vermag und die Anerkennung eines allgemeinen übergesetzlichen Schuldminderungsgrundes der "Verstrickung in ein Unrechtssystem" ablehnt, so ist es verfassungsrechtlich nicht geboten, dieser Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entgegenzutreten.

 

4. Hat somit ein strafrechtlicher Schuldminderungsgrund der "Verstrickung" ausser Betracht zu bleiben, so konnte der Bundesgerichtshof bei der Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale des §211 StGB in vollem Umfang als erfüllt ansehen. Bei einer Auslegung, wie sie der Rechtsprechung zu den Mordmerkmalen "grausam" und "aus niedrigen Beweggründen" zugrunde liegt, kann im Regelfall von einer besonderen Verwerflichkeit der Tat ausgegangen werden, die grundsätzlich die Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe als schuldangemessen und verhältnismässig erscheinen lässt. Das Schwurgericht hat im Fall des Beschwerdeführers mit verfassungsrechtlich unbedenklichen Überlegungen diese Mordmerkmale bejaht. Auch die Ausführungen zur Täterschaft des Beschwerdeführers, zu seinem Unrechtsbewusstsein und zur Verneinung gesetzlicher Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe lassen keinen Verfassungsverstoss erkennen.

 

Der Beschwerdeführer rügt jedoch als Verfassungsverstoss, der Bundesgerichtshof habe ausdrücklich offengelassen, ob die lebenslange Freiheitsstrafe seiner Schuld angemessen sei, und die Auffassung vertreten, der eindeutige Wille des Gesetzes stehe der Annahme einer Strafmilderung entgegen.

 

Diese Bedenken greifen nicht durch. Der Bundesgerichtshof führt zwar aus, es könne dahinstehen, ob die Feststellungen des Schwurgerichts überhaupt zu einer Milderung der Strafe drängten. Im Gesamtzusammenhang ist dieser Satz aber dahin zu verstehen, dass selbst dann, wenn es entgegen der Ansicht des Bundesgerichtshofs einen Schuldminderungsgrund der Verstrickung gäbe, zweifelhaft sei, ob der Beschwerdeführer dessen Voraussetzungen erfülle. Aus den anschliessenden Darlegungen ergibt sich, dass der Bundesgerichtshof von der Schuldangemessenheit der lebenslangen Freiheitsstrafe auch in diesem konkreten Fall überzeugt gewesen ist. Es wird im einzelnen ausgeführt, dass der Beschwerdeführer in besonders erschwerender Weise und aufgrund weitgehend selbständiger Entschliessung seine Tathandlungen begangen habe; damit wird zum Ausdruck gebracht, dass seine Schuld als hoch, jedenfalls als nicht besonders gemildert zu bewerten ist. Der Bundesgerichtshof geht im konkreten Fall ersichtlich von einer "Regelschuld" des Beschwerdeführers aus. Das zeigt sich darin, dass er sich nicht mit der Frage der Schuldmilderung, sondern der Strafmilderung befasst und diese ablehnt. Er erörtert die Problematik - anders als das Schwurgericht - lediglich auf der Ebene der Strafzumessung; für besondere Strafzumessungserwägungen aus dem Gesichtspunkt