Justiz und NS-Verbrechen Bd.XL

Verfahren Nr.813 - 830 (1974 - 1976)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.830c BVerfG 16.04.1980 JuNSV Bd.XL S.869

 

Lfd.Nr.830c    BVerfG    16.04.1980    JuNSV Bd.XL S.874

 

Strafgerichte (hauptsächlich des Bundesgerichtshofs), darüber zu entscheiden, auf welche Weise sichergestellt werde, dass auch in Grenzfällen keine unverhältnismässig hohe und der Schuld nicht angemessene Strafe verhängt werden müsse.

 

2. Die Bemühungen um eine gerechte Bestrafung nationalsozialistischer Gewalttäter haben die Strafgerichte in den vergangenen Jahrzehnten vor erhebliche Probleme gestellt (vgl. hierzu z.B. Baumann, in: Henkys, Die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, 2.Aufl., 1965, S.267; Jäger, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft, 1967, S.166 ff.; Hanack, Zur Problematik der gerechten Bestrafung nationalsozialistischer Gewaltverbrecher, 1967, = JZ 1967, S.297, S.329; Rückerl, Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen 1945-1978, 1979, S.76 ff.; Schünemann, Ungelöste Rechtsprobleme bei der Bestrafung nationalsozialistischer Gewalttaten, in: Festschrift für Hans-Jürgen Bruns zum 70.Geburtstag, 1978, S.223). Neben den rein tatsächlichen Schwierigkeiten (Sachverhaltsfeststellung, Beweiserhebung und Beweiswürdigung in Fällen, die sehr lange Zeit zurückliegen) war insbesondere die rechtliche Beurteilung der Taten im Hinblick auf die Tatbestandsmerkmale des §211 StGB und die in dieser Strafbestimmung absolut angedrohte lebenslange Freiheitsstrafe umstritten.

 

Das Schwurgericht hat im vorliegenden Fall das Problem einer schuldangemessenen Bestrafung, die nach seiner Ansicht die Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe nicht rechtfertigte, dadurch zu lösen versucht, dass es im Wege der Rechtsfortbildung einen allgemeinen übergesetzlichen Schuldmilderungsgrund der "Verstrickung in ein Unrechtssystem" entwickelte und auf eine zeitige Freiheitsstrafe erkannte. Dabei griff es auf einen Vorschlag zurück, der bereits ein Jahrzehnt zuvor in der wissenschaftlichen Diskussion erörtert worden war (vgl. dazu die Verhandlungen des 46.DJT, Bd.II, 1967, Abschn. C S.7 ff.). Damals hatte Hanack (Zur Frage geminderter Schuld der vom Unrechtsstaat geprägten Täter, Verhandlungen a.a.O., Abschn. C S.53) die Auffassung vertreten, dass im Bereich der Schuld zwischen NS-Gewaltverbrechen und normaler Kriminalität Unterschiede bestünden, die sich aus der besonderen Situation erklärten, in welcher jene Delikte begangen worden seien. Diese Auffassung blieb jedoch umstritten. Es wurde die Befürchtung geäussert, eine generelle Schuldminderung bei Handeln unter Druck werde zu einem Abbau des Rechtsbewusstseins führen (vgl. den Bericht von Friesenhahn, Verhandlungen a.a.O., Abschn. C S.12 27 f.). Das Schwurgericht hat im wesentlichen die Überlegungen von Hanack übernommen und weiterentwickelt.

 

Demgegenüber hat der Bundesgerichtshof in seiner Rechtsprechung zur Bestrafung nationalsozialistischer Gewalttaten die Annahme eines eigenständigen übergesetzlichen Schuldmilderungsgrundes der "Verstrickung in ein System der Gewaltherrschaft" nicht anerkannt. Er hält es nur für möglich, eine solche Verstrickung als einen tatsächlichen Umstand im Rahmen der Voraussetzungen gesetzlicher Milderungsgründe zu berücksichtigen (vgl. BGH, Urteil vom 15.Juli 1969 - 5 StR 704/68 449). Diesen Überlegungen folgt auch die hier angegriffene Entscheidung.

 

3. Bei dieser zwischen dem Schwurgericht und dem Bundesgerichtshof bestehenden Meinungsverschiedenheit geht es um eine Frage der Rechtsauslegung und Rechtsfortbildung auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts, deren Beantwortung in erster Linie Sache der dafür zuständigen Strafgerichte ist. Das Bundesverfassungsgericht hat auf die Verfassungsbeschwerde hin nur zu prüfen, ob die gegen den Beschwerdeführer verhängte lebenslange Freiheitsstrafe schuldangemessen und verhältnismässig ist. Im Rahmen dieser verfassungsrechtliche Prüfung ist die vom Bundesgerichtshof vertretene Auffassung nicht zu beanstanden.

 

449 Siehe Lfd.Nr.662b.