Justiz und NS-Verbrechen Bd.XL

Verfahren Nr.813 - 830 (1974 - 1976)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.830c BVerfG 16.04.1980 JuNSV Bd.XL S.869

 

Lfd.Nr.830c    BVerfG    16.04.1980    JuNSV Bd.XL S.873

 

sowohl im besonderen Teil des Strafgesetzbuchs als auch vor allem im allgemeinen Teil ausreichende gesetzliche Milderungsmöglichkeiten eröffnet (z.B. Vorschriften über das Begehen durch Unterlassen, den Verbotsirrtum, die verminderte Schuldfähigkeit, den Versuch, die Beihilfe, den Notstand). Die Annahme eines eigenständigen übergesetzlichen Schuldmilderungsgrundes der Verstrickung laufe demgegenüber auf eine Korrektur des Gesetzes hinaus, die der Bundesgerichtshof zu Recht nicht anerkannt habe.

 

Das angegriffene Urteil verletze auch nicht Art.101 Abs.1 Satz 2 GG. Das Revisionsgericht habe mit der Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe die ihm gezogenen Grenzen keineswegs verkannt. Vielmehr seien die Voraussetzungen des §354 Abs.1 StPO gegeben, wonach das Revisionsgericht dann in der Sache selbst entscheiden könne, wenn ohne weitere tatsächliche Erörterungen nur auf eine absolute Strafe zu erkennen sei. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 21.Juni 1977 habe nichts daran geändert, dass §211 Abs.1 StGB eine absolute Strafe androhe.

 

Schliesslich habe der Bundesgerichtshof auch nicht gegen Art.103 Abs.1 GG verstossen. Diese Vorschrift garantiere kein Rechtsgespräch im Rahmen einer mündlichen Verhandlung. Die Anordnung des persönlichen Erscheinens in der Revisionsverhandlung sei nur in Ausnahmefällen erforderlich. Ein derartiger Fall sei hier nicht gegeben.

 

B. « Zurückweisung der Verfassungsbeschwerde »

 

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist unbegründet. Die angegriffene Entscheidung des Bundesgerichtshofs verstösst nicht gegen die vom Beschwerdeführer als verletzt gerügten Grundrechte und gleichgestellten Rechte.

 

I. « Keine Verletzung des Schuldgrundsatzes und des Verhältnismässigkeitsgebots »

 

Eine Verletzung des Schuldgrundsatzes und des Verhältnismässigkeitsgebots ist nicht erkennbar.

 

1. Nach dem Schuldgrundsatz, wie er aus Art.1 Abs.1 und Art.2 Abs.1 GG sowie aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt, müssen Tatbestand und Rechtsfolge im strafrechtlichen Bereich - gemessen an der Idee der Gerechtigkeit - sachgerecht aufeinander abgestimmt sein (vgl. BVerfGE 20, 323 331; 25, 269 286; 27, 18 29; 45, 187 259 f.). Jede Strafe muss daher in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der Straftat und zum Verschulden des Täters stehen; die verhängte Strafe darf die Schuld des Täters nicht übersteigen (BVerfGE 6, 389 439; 9, 167 169; 20, 323 331; 25, 269 285 f.; 50, 5 12). Wo die Tat verschiedene Grade des Verschuldens und der Schwere aufweisen kann, muss dem Richter grundsätzlich die Möglichkeit gelassen werden, die Strafe dem anzupassen (vgl. BVerfGE 45, 187 260). Der Richter darf nicht gezwungen sein, eine Strafe zu verhängen, die nach seiner aufgrund der getroffenen Feststellungen gewonnenen Überzeugung der Schuld des Täters nicht angemessen wäre.

 

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zur lebenslangen Freiheitsstrafe (BVerfGE 45, 187 261 ff.) ausgeführt, die absolute Androhung einer so schweren Strafe sei nur dann verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn dem Richter von Gesetzes wegen die Möglichkeit offenbleibe, bei der Subsumtion der konkreten Fälle unter die abstrakte Norm zu einer Strafe zu kommen, die mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismässigkeit vereinbar sei. Dies sei jedoch unter Berücksichtigung der Vorschriften des allgemeinen Teils des Strafgesetzbuchs und im Wege einer verfassungskonformen restriktiven Auslegung des §211 StGB möglich; in der Rechtswirklichkeit sei die Androhung der lebenslangen Freiheitsstrafe in den Fällen des §211 Abs.2 StGB weniger absolut, als es auf den ersten Blick den Anschein habe. Es sei jedoch Aufgabe der für die Auslegung der Strafrechtsnormen zuständigen