Justiz und NS-Verbrechen Bd.XL

Verfahren Nr.813 - 830 (1974 - 1976)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.830c BVerfG 16.04.1980 JuNSV Bd.XL S.869

 

Lfd.Nr.830c    BVerfG    16.04.1980    JuNSV Bd.XL S.871

 

Die Unterschreitung der in §211 StGB allein angedrohten Strafe aus dem Gesichtspunkt der "Schuldmilderung wegen Verstrickung" sei nicht zu rechtfertigen.

 

Ob die Feststellungen des Schwurgerichts überhaupt zu einer Milderung der Strafe drängten, möge dahinstehen. Immerhin habe der Beschwerdeführer eine einmalige "allgemeine Richtlinie" zum Anlass genommen, zahlreiche Insassen des ihm unterstellten Arbeitslagers zu töten. Er habe die Opfer nach unbestimmten Massstäben ausgewählt, sie in grausamer Weise umbringen lassen, selbst an der Grube gestanden, in die sich die Opfer auf zuvor Erschossene hätten legen müssen, und er habe auch selbst mitgeschossen. Mildernd wolle das Schwurgericht letztlich lediglich berücksichtigen, dass es dem damals noch jungen Beschwerdeführer in seiner Umgebung leicht gemacht worden sei, sich für das Unrecht zu entscheiden. Solche Erwägungen könnten indessen nicht auf die Verstrickung in das NS-Unrechtssystem beschränkt bleiben. Auch andere Angehörige von Gewalt verherrlichenden und ausübenden Gruppen könnten sich darauf berufen, dass in ihren Kreisen eine Gewalttat dieser Art gebilligt werde.

 

Der eindeutige Wille des Gesetzes stehe der Annahme einer Strafmilderung aus derartigen Erwägungen entgegen. Die Strafandrohung wegen Mordes kenne keinen minder schweren Fall. Liege einer der gesetzlichen Milderungsgründe nicht vor, ermöglichten auch sonstige Strafmilderungsgründe kein Absehen von der allein angedrohten lebenslangen Freiheitsstrafe. Das entspreche der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs.

 

Es treffe zwar zu, dass für die aussergewöhnlichen, früher unvorstellbaren Verhältnisse der NS-Zeit die einschlägigen Vorschriften des Strafgesetzbuchs nicht gedacht gewesen seien und dass es darum oft schwierig sei, Taten, die aus jener Verstrickung in den brutalen Machtapparat folgten, mit den Mitteln und Begriffen des geltenden Strafrechts gerecht zu werden. Die Gerichte seien aber nicht berechtigt, die Strafgesetze für Taten dieser Art in freier Rechtsschöpfung umzugestalten. Es sei daran festzuhalten, dass ein eigenständiger Strafmilderungsgrund der Verstrickung in ein System der Gewaltherrschaft nicht anerkannt werden könne. Die eingehenden Erwägungen des Schwurgerichts vermöchten demgegenüber nicht zu überzeugen. Einen derart schwerwiegenden Eingriff in das Gefüge des Strafrechts, wie ihn das Schwurgericht vertreten wolle, könne lediglich der Gesetzgeber vornehmen. Die vom Schwurgericht zur Strafmilderung herangezogenen Gesichtspunkte könnten nur im Gnadenwege berücksichtigt werden.

 

II. « Die Begründung der Verfassungsbeschwerde »

 

Gegen das Urteil des Bundesgerichtshofs hat der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde eingelegt. Gerügt wird die Verletzung der Art.1, 2, 3, 101 Abs.1 Satz 2 und 103 Abs.1 GG. Zur Begründung wird ausgeführt:

 

Der Bundesgerichtshof habe den Umfang des Grundrechtsschutzes verkannt, wie er im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur lebenslangen Freiheitsstrafe (BVerfGE 45, 187) herausgearbeitet worden sei. Bei Beachtung der insoweit verfassungsrechtlich massgeblichen Grundsätze hätte der Bundesgerichtshof die vom Schwurgericht erkannte Schuldmilderung wegen Verstrickung in staatliches Verbrechen anerkennen oder einen anderen Weg finden müssen, um zu einer schuldangemessenen Strafe zu gelangen. Denn es sei geboten, dass die angedrohte Strafe in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Mass der Schuld des Täters stehe und die verhängte Strafe die Schuld des Täters nicht übersteige.

 

Gehe man im Falle des Beschwerdeführers von den - seiner Ansicht nach unrichtigen - ihn belastenden tatsächlichen Feststellungen aus, so müsse jedenfalls bedacht werden, dass die verhängte lebenslange Freiheitsstrafe seine Schuld weit übersteige; diese Strafe sei unvereinbar mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismässigkeit. Dies ergebe sich