Justiz und NS-Verbrechen Bd.XL

Verfahren Nr.813 - 830 (1974 - 1976)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.830a LG Hamburg 09.03.1976 JuNSV Bd.XL S.823

 

Lfd.Nr.830a    LG Hamburg    09.03.1976    JuNSV Bd.XL S.856

 

Arendt in bohrender Analyse (Eichmann in Jerusalem, Piper 1964; vgl. dies. schon in Ursprünge usw., 1955 S.487 ff. / (539-542)) über Eichmann zutage bringt - dass er wenig mehr als ein gehorsamer Pedant und Spiesser war, darf eine gewisse Allgemeingültigkeit beanspruchen. Broszat urteilt über Rudolf Höss, den berüchtigten Kommandanten von Auschwitz, nicht anders (Broszat dtv-dok. Nr.114, Einleitung S.7 ff. (insb. 11, 14, 15 bis 22)).

 

Die Ambivalenz des Sachverhalts führt, wie H. Jäger zutreffend feststellt (Verbrechen unter totalitärer Herrschaft, Vorwort S.13), zu widersprüchlicher Deutung: Der Hinblick auf die Verbrechen zu einer "Dämonisierung des Täters"; die Betrachtung der übergreifenden Gewalten hingegen zur "Depersonalisation" der Täter - eine Auffassung, die ihre scheinbare Bestätigung findet in der grauen Alltäglichkeit derer, die seinerzeit Mörder gewesen waren.

 

Dem Impuls zur demonstrativen Verwerfung unerklärlicher Verbrechen durch harte Bestrafung tritt somit die Neigung gegenüber, den Einzelnen zu begreifen als "unselbständig und gleichsam antriebslos agierenden Partikel einer ferngesteuerten Terrormaschinerie" (Jäger a.a.O. S.13), ihn infolgedessen von persönlicher Verantwortung völlig zu entlasten. Hannah Arendt rückt die unausweichliche Macht der Umstände scharf und überdeutlich in den Vordergrund, zieht aber einen anderen Schluss: Entsprechend der fiktiven Urteilsbegründung, die ihr Buch beschliesst (a.a.O. S.327-329), muss Eichmann sterben wegen der Grösse des Verbrechens, das er gefördert hatte, ohne Rücksicht auf das, was - juristischen Begriffen nach - persönliche Schuld wäre. Jäger macht - im Zusammenhang mit seinen Untersuchungen zum Unrechtsbewusstsein von NS-Tätern - mit Recht darauf aufmerksam, dass hier das Schuldstrafrecht an seine Grenze gelange (a.a.O. S.169; 185/186). Seiner Bemerkung indessen, "bei der Gefährlichkeit solcher "Menschheitsverbrechen"... können wir es uns wohl kaum leisten, sie (scil.: die Grenze des Schuldstrafrechts) zu respektieren" (s. auch Anm.71 a.a.O.), ist zu widersprechen: Der Richter muss sich zumindest darum bemühen, die Grenze zu wahren; sonst spräche er kein Recht, sondern triebe Politik, übte Rache, "bewältigte" Vergangenheit auf Kosten von Tätern, deren Schuld das so nicht erlaubte oder verhängte sonstige Massnahmen aus vielleicht achtbaren, aber nicht aus rechtlichen Gründen.

 

Wenn Schuld in NS-Verfahren zuweilen "fingiert" genannt wird (vgl. Jäger a.a.O. 169; 185), so ist diese Wertung - jedenfalls regelmässig - unberechtigt, insofern sie die Täter schlechthin von Schuld und Verantwortung entbindet. Das entspricht durchweg nicht der Sachlage, verletzt das rechtliche Urteil und ruft die berechtigte Empörung nicht zuletzt auch solcher Menschen hervor, die den Terror als Opfer durchlebt haben. Aber die Schuld ist häufig in der Tat insofern fiktiv, als dem Täter die volle Verantwortung zugeschrieben wird für ein Verhalten, zu dem er sich unter den besonderen Umständen nazistischen Terrors hergegeben hatte, als er deshalb - nun wirklich im Wege der Fiktion - so verurteilt wird, als hätte er unter rechtsstaatlichen Verhältnissen gehandelt. Davor warnend, schrieb Adolf Arndt schon im Jahre 1964 (NJW 1964, 1312 li. Sp., s.a. Fussn.9), es zieme "einem Rechtsstaat nicht, in einem Unrechtsstaat begangene Taten so zu behandeln, als seien sie in einem Rechtsstaat geschehen".

 

Diesem Mangel an sachnotwendiger Differenzierung, der das von Jäger richtig charakterisierte Problem wenn nicht schafft so jedenfalls verschärft, hilft der übergesetzliche Schuldmilderungsgrund ab.

 

Die Gründe, die für das Gericht massgebend waren, von der Strafmilderungsmöglichkeit zu Gunsten des Angeklagten Eickhoff Gebrauch zu machen, sind unten zu entwickeln - im Zusammenhang mit der Strafzumessung.