Justiz und NS-Verbrechen Bd.XL

Verfahren Nr.813 - 830 (1974 - 1976)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

> zum Inhaltsverzeichnis

Lfd.Nr.830a LG Hamburg 09.03.1976 JuNSV Bd.XL S.823

 

Lfd.Nr.830a    LG Hamburg    09.03.1976    JuNSV Bd.XL S.854

 

hinausläuft (Roxin, Täterschaft S.578); das wäre zwar gesetzestechnisch leicht möglich, griffe aber weit über den Sachverhalt hinaus, der nach Auffassung des Schwurgerichts als schuldmindernd anerkannt werden muss. Der übergesetzliche Schuldmilderungsgrund, den das Gericht zugrunde legt, wäre hingegen im Gesetz nur schwer positiv zu regeln, weil der heutige Gesetzgeber Normen für einen Rechtsstaat schafft und dessen reale Bedingungen allenthalben und notwendig voraussetzt. Ihm fehlen die Kategorien und Begriffe, um die Pervertierung des Grundverhältnisses zwischen Staat und Einzelnem zu erfassen. Die Rechtsprechung ist dazu viel eher in der Lage, gleichgültig, ob es sich dabei um einen historisch abgeschlossenen Sachverhalt handelt wie die NS-Zeit oder um Bedingungen eines gegenwärtigen Staatsterrors (vgl. z.B. den Fall Stachinsky, BGHSt. 18/87 ff.; s. auch LG Stuttgart v. 11.10.1963 NJW 1964, 63-69 (66 1.Sp).

 

Nichts für diese Frage folgt aus der Tatsache, dass der Gesetzgeber in den Jahren 1965 (BGBl. I 315) und 1969 (BGBl. I 1065) entschieden hat, NS-Verbrechen (Mord) über eine weitere Frist nicht verjähren zu lassen: Damit stand sein Wille fest, dass NS-Taten zu verfolgen waren; über die dafür massgeblichen strafrechtlichen Grundsätze war nichts ausgemacht.

 

Da die Schuldmilderung wegen Verstrickung aus Verfassungsrecht herzuleiten ist, hätte der Gesetzgeber sie auch nicht wirksam ausschliessen können. Aber er hat das - wie gezeigt - niemals gewollt.

 

In der NSG-Rechtsprechung - jedenfalls soweit sie publiziert ist - wird die übergesetzliche Schuldmilderung nicht ausdrücklich erörtert. Das Urteil des 5. Senats vom 15.7.1969 (5 StR 704/68) berührt (in Ziff.II 2 439) das Problem einer Schuldmilderung lediglich im speziellen Zusammenhang mit dem Nötigungsstand nach §52 StGB a.F. Im Schweigen des BGH kann jedoch keine negative Entscheidung gefunden werden: Es gibt keinen Zeitpunkt, nach dessen Ablauf Rechtsfortbildung durch einen solchen Umkehrschluss abgeschnitten werden dürfte.

 

Im übrigen liegt es dem BGH, wie gezeigt, fern, das Problem der Schuldverstrickung im Terrorstaat beiseite zu schieben. Die innere Logik, die sich in seiner Rechtsprechung zum Schuldgrundsatz entfaltet (BGH 2, 204, 209), drängt zur Anerkennung dieses Schuldmilderungsgrundes, so dass der Spruch des Schwurgerichts mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht nur verträglich ist, sondern ihren Gehalt voll in sich aufnimmt:

 

Der BGH hat - anders als das Reichsgericht, das sich bei Beurteilung der strafrechtlichen Täterzurechnung an klare, aber mehr äussere Kriterien hielt (RGSt. 2, 269) - dem Schuldgrundsatz zunehmend Geltung verschafft (vgl. die Darstellung in BGHSt. 2, 194 ff. (197-209)). Dabei knüpfte er an bei Lehre und Rechtsprechung, die nach dem Ende des 2.Weltkrieges darum bemüht gewesen waren, für die strafrechtlichen Probleme der NS- und Kriegszeit angemessene Kategorien und Gesichtspunkte zu finden. So hatten Rechtsprechung und Wissenschaft anerkannt, dass die im präzisen Sinne tragische Situation eines rechtlich gesinnten "Euthanasie"-Arztes eine Verfeinerung der herkömmlichen Schuldgesichtspunkte erzwang, wie immer die dogmatische Konstruktion letztlich lauten mochte (vgl. Schönke-Schröder Vorb. §32 Rz.110, 115-117; §34 Rz.23, 24). Während einerseits die Täterschuld unter bestimmten Voraussetzungen, die das Reichsgericht zu würdigen überhaupt nicht bereit gewesen wäre, gänzlich ausgeschlossen erschien, wurde andererseits die Strafzumessungslehre - aus dem gleichen übergreifenden Grunde gerechter Schuldbewertung - verfeinert (Dreher StGB 1975 §46 Anm.2 und 3; Schönke-Schröder Vorb. §38 Rz.10, 11 mit Nachw.).

 

439 Siehe JuNSV Bd.XXVII S.125 (Lfd.Nr.662b).