Justiz und NS-Verbrechen Bd.XL

Verfahren Nr.813 - 830 (1974 - 1976)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.830a LG Hamburg 09.03.1976 JuNSV Bd.XL S.823

 

Lfd.Nr.830a    LG Hamburg    09.03.1976    JuNSV Bd.XL S.853

 

ob der Täter aktiv und selbsttätig das Recht bricht oder den Dingen ihren Lauf lässt (Roxin in Jus-Schriftenreihe 30 S.8, dort Anm.31; Schönke-Schröder §13 Rz.64).

 

Diese Rahmenerwägung, die an §13 StGB anknüpft, wird ausgefüllt und ergänzt durch die beiden oben entwickelten Gesichtspunkte, deren einer bei §17 S.2, deren anderer bei §35 StGB anknüpft:

 

Die exakten Voraussetzungen keiner der genannten Vorschriften (§§13, 17, 35 StGB) sind erfüllt; aber der typische NS-Täter ist seiner Situation nach deutlich an sie herangerückt. Insgesamt unterscheidet er sich vom Verbrecher im Rechtsstaat auf Grund dieser strukturellen (in der Situation angelegten) Merkmale so grundlegend, dass diese Differenz in eine Schuldminderung mit Strafmilderungsmöglichkeit umgesetzt werden muss.

 

Dabei liegt, was die Konstruktion anlangt, die Analogie insbesondere zu §17 S.2 StGB nahe, wenngleich weitere, kaum weniger wichtige Elemente als das dort erfasste in die übergesetzliche Schuldminderung eingehen.

 

(b) Erörterung von Einwendungen

 

Mit der Annahme eines übergesetzlichen Schuldmilderungsgrundes greift das Schwurgericht Überlegungen auf, die erstmals Ernst-Walter Hanack vorgetragen hat - anlässlich einer Sondertagung des 46.Deutschen Juristentages (vgl. Probleme der Verfolgung usw., C.H. Beck Berlin 1967, C 53-58; derselbe in JZ 1967 S.297-309; 329-338 (Sonderdruck: Zur Problematik der gerechten Bestrafung nationalsozialistischer Gewaltverbrecher, dort insbesondere S.45)).

 

Sein Vorschlag, in bestimmten Fällen der Verstrickung einen fakultativen Schuldmilderungsgrund anzuerkennen, ist - wie aus dem Tagungsbericht hervorgeht - von den Experten aus Wissenschaft, Justiz und Rechtsprechung (vgl. a.a.O. C 7) lebhaft erörtert worden. Eine seinerzeit einstimmig verabschiedete Entschliessung enthält dazu folgendes:

"Ein Teil der Kommission hat die Meinung vertreten, dass für solche aus einer aussergewöhnlichen Lage entsprungenen Fälle ausnahmsweise ein übergesetzlicher Strafmilderungsgrund in Betracht gezogen werden könnte; andere Mitglieder wollen die Lösung dem Gesetzgeber oder der Gnadeninstanz überlassen." (Probleme pp. S. C. 9; auch C 27/28).

Die von Hanack vorgeschlagene Lösung - eine Strafmilderungsmöglichkeit anzuerkennen - ist nach Auffassung des Schwurgerichts die bessere.

 

Das Schweigen des Gesetzes besagt nichts gegen sie. Das Strafrecht besteht in seinem allgemeinen Teil aus einer Vielzahl von Sätzen, Bestimmungen und Definitionen, die teils im Gesetz stehen, teils zunächst überhaupt nur von Wissenschaft und Rechtsprechung entwickelt werden, vielfach ohne ins Gesetz ausdrücklich Eingang zu finden. Das gilt auch für die Entschuldigungsgründe. Der Gesetzgeber hat hier - wie er es auch sonst häufig tut - bewusst davon abgesehen, die Materie vollständig und abschliessend zu regeln, auch um der Rechtsentwicklung Raum zu lassen. Solange aber der Gesetzgeber auf abschliessende Regelungen verzichtet, kann der Richter auf eine sachlich gebotene Rechtsfortbildung nicht verzichten mit dem Argument, der Gesetzgeber solle vorangehen. Das wäre Rechtspolitik, die zu treiben dem Richter nicht zusteht; denn - wie der BGH (2/204) formuliert: "Befugnis und Verpflichtung der Rechtsprechung, neue den Schuldgrundsatz voll zur Geltung bringende Rechtssätze ... zu entwickeln, stehen ... ausser allem Zweifel."

 

Im übrigen wäre eine ausdrückliche gesetzliche Regelung kaum formulierbar: Das Problem liegt nicht darin, eine allgemeine Strafmilderung für Mord zu ermöglichen - etwa im Sinne eines §211 Abs.3 StGB, auf den nach Roxins Analyse die von ihm kritisierte Rechtsprechung