Justiz und NS-Verbrechen Bd.XL

Verfahren Nr.813 - 830 (1974 - 1976)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.830a LG Hamburg 09.03.1976 JuNSV Bd.XL S.823

 

Lfd.Nr.830a    LG Hamburg    09.03.1976    JuNSV Bd.XL S.851

 

Erfolg begleiteten Gewalt des Terrors, die Erkenntnis, dass sonst nirgends Widerspruch gegen den Mord sichtbar hervortrat, die berechtigte Vermutung, dass ohnehin geschehen würde, was geschehen sollte, dass die Täter durchweg als austauschbar erschienen, und zu allem eine tief eintrainierte, fraglose, dumpfe Disziplin.

 

Dies aber dürfte die seelische Ebene gewesen sein, auf der ein rechtlicher Handlungsentschluss im Zweifel erdrückt und erstickt wurde. Das wirkliche Orientierungs- und Handlungsniveau lag mithin - was den Notstand betrifft - durchweg unterhalb der Ebene, die im rechtlichen Notstandsbegriff vorausgesetzt ist. Deshalb kann es wenig verwundern, dass NSG-Prozesse und zeitgeschichtliche Forschung die Vermutung begründen, dass Fälle echten Notstandes seinerzeit nur selten vorgelegen haben, jedenfalls viel seltener, als man - ausgehend von "normalen" Vorstellungen über menschliche Handlungsbereitschaft - angesichts einer gigantischen Mordunternehmung mit mehreren Millionen Opfern und zehntausenden von Tätern und Gehilfen annehmen würde (vgl. auch Hinrichsen in Rückerl NSG 1971 S.131, 138-161).

 

Die Rechtsordnung kann das Notstandprivileg nur dem zubilligen, der die Schichten der Lethargie und des stumpfen Gehorsams durchstossen hat und dann, im Bemühen, trotz allem Recht zu tun, gescheitert ist oder kapituliert hat. (Die Rechtsprechung stellt hohe Ansprüche an den Täter: vgl. die Zusammenstellung bei Hinrichsen a.a.O. S.131 ff. (135-137)). Schliesslich wird der Täter wegen Notstands von jeder Schuld freigesprochen.

 

Aber die Lage dessen, der im bezeichneten Sinne erst im Vorfeld des Notstandes steht, ist sicherlich auch nicht die Situation des Menschen, der - wie der BGH es ausdrückt - als Teilhaber der Rechtsgemeinschaft in freier, sittlicher Selbstbestimmung zur rechtlichen Entscheidung zu kommen hat. Der BGH ist in seiner einschlägigen Rechtsprechung nicht an der Tatsache vorbeigegangen, dass die Situation eines Täters, der im staatlichen Auftrag mordet, in seine Verbrechen also gerade von Obrigkeit und Gesellschaft verstrickt wird, eine grundlegend andere ist als die eines landläufigen Bürgers.

 

Im Urteil vom 19.Oktober 1962 heisst es dazu:

"Solche blossen Befehlsempfänger unterliegen bei Begehung derartiger amtlich befohlener Verbrechen nicht den kriminologisch erforschten oder jenen jedenfalls ähnlichen persönlichen Tatantrieben. Vielmehr befinden sie sich in der sittlich verwirrenden, mitunter ausweglosen Lage, vom eigenen Staat, der vielen Menschen bei geschickter Massenpropaganda nun einmal als unangezweifelte Autorität zu erscheinen pflegt, mit der Begehung verwerflichster Verbrechen geradezu beauftragt zu werden. Sie befolgen solche Anweisungen unter dem Einfluss politischer Propaganda oder der Befehlsautorität oder ähnlicher Einflüsse ihres eigenen Staates, von welchem sie im Gegenteil die Wahrung von Recht und Ordnung zu erwarten berechtigt sind. Diese gefährlichen Verbrechensantriebe gehen statt von den Befehlsempfängern vom Träger der Staatsmacht aus, unter krassem Missbrauch dieser Macht ..." (9 StE 4/62, Bd.18, 87 ff. (93 f.)).

Der BGH hält diese eigentümliche Verstrickung zutreffend für ein Problem gerechter Schuldbemessung. Er bestätigt den Grundsatz:

"... Diese besonderen Umstände staatlich befohlener Verbrechen befreien die Tatbeteiligten keineswegs von der strafrechtlichen Schuld ..." (S.94),

fährt aber fort:

"... Unter besonderen Umständen mögen staatliche Verbrechensbefehle allerdings Strafmilderungsgründe abzugeben ..." (a.a.O.)

 

Der BGH versteht sich allerdings nicht zu dem Satz, dass dem Täter unter den charakterisierten Voraussetzungen ein Schuldmilderungsgrund zur Seite stehe, obwohl er eben dies der