Justiz und NS-Verbrechen Bd.XL

Verfahren Nr.813 - 830 (1974 - 1976)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.830a LG Hamburg 09.03.1976 JuNSV Bd.XL S.823

 

Lfd.Nr.830a    LG Hamburg    09.03.1976    JuNSV Bd.XL S.850

 

überschreitbar sind. Das gilt in gewissem Umfange schon allgemein und zeitlos, weil der einzelne auch in seiner moralischen Konstitution ein gesellschaftliches Wesen ist. In der Neuzeit hat sich dies eher zugespitzt: Während der Mensch früherer Zeiten die Maximen seines Handelns im wesentlichen aus fester Tradition oder verhältnismässig stabilen Wertvorstellungen grundsätzlicher Art schöpfte, scheint er in der Neuzeit in Normverständnis und Werthaltung weithin abhängig zu sein von Vorstellungen, Erwartungen, Ansprüchen und Urteilen anderer - von Gruppen, von dem, was ihm als "die Gesellschaft" entgegentritt, von staatlichen Kundgaben ("Aussenleitung" - vgl. David Riesman, "The Lonely Crowd", 5.Aufl. 1953, New Haven, S.11-31 und pss.; dt. in rde 72/73, 1958 mit Vorwort von Schelsky; s. dort S.13 zu Aussenleitung und NSG).

 

Bleibt eine solche Orientierung an wechselnden Leitbildern und Autoritäten innerhalb rechtlich und ethisch annehmbarer Rahmenbedingungen erträglich, so konnte ihre Verknüpfung mit dem Terrorstaat der Nazis nicht ohne die schlimmsten Folgen bleiben. H.-E. Richter ("Mörder aus Ordnungssinn - warum viele NS-Verbrecher so schnell zu braven Kleinbürgern wurden", in der "Zeit" 1963, 19.Juli, Nr.29 S.3) macht zutreffend darauf aufmerksam, bei NS-Verbrechern sei die Rolle der persönlichen Gewissensinstanz in erschreckendem Ausmasse auf eine äussere Autorität übergegangen. "Diese Menschen kennen sich im Grunde nur in der Rolle der Funktion für einen anderen oder eine Gruppe. Ihr Ich-Ideal ist ganz und gar identisch mit den Erwartungen, die sie von dieser anderen Seite auf sich gerichtet glauben." (vgl. dazu auch Jäger a.a.O. S.64-67; zum Ganzen: Redeker in Probleme der Verfolgung, Beck 1967 C 45-52: Individualschuld und Mitschuld von Staat und Gesellschaft).

 

Die Verwirrung des Täterbewusstseins ist das eine. Zum rechtlichen Verhalten, dessen Ausbleiben als Schuld vorzuwerfen ist, führen indessen zwei Schritte: Die Erkenntnis muss umgesetzt werden in Handlungswillen, in einen Entschluss, die Entscheidung für das Recht. Allerdings braucht sich das Recht in aller Regel um das Willens- (d.h. das Umsetzungs-) Problem weniger zu bekümmern als um die Erkenntnis- (d.h. die Irrtums-) Frage. Denn wer das Recht kennt, kann - von bestimmten, engen Ausnahmen abgesehen - seiner Einsicht gemäss handeln. Damit verlangt die Rechtsordnung nichts Unbilliges, denn die Rechtserkenntnis des einzelnen wird durch die rechtskonformen Erwartungen und Ansprüche der Gemeinschaft, der Umwelt und des Staates mit all seinen Institutionen zur Realisierung in rechtlichem Handeln gedrängt. Der private, persönliche Entscheidungsansatz wird dadurch aufgenommen, ermutigt und stabilisiert.

 

Völlig anders die Situation im SS-Staat: Hier konnte bessere Einsicht keineswegs gewissermassen "von selbst" in rechtliches Handeln umschlagen. Nahezu alle Handlungsimpulse, die gelernten, andressierten, allenthalben gelebten, von den Vorgesetzten und der eigenen Gruppe geforderten und honorierten verliefen in der Gegenrichtung. In menschlichen Regungen, humanen Einsichten oder Skrupeln machte sich danach lediglich der "innere Schweinehund", ein Gefühlsrest bemerkbar, mit dem ein "stahlharter" SS-Mann einfach fertig zu werden hatte (dazu Jäger a.a.O. S.68-71; Buchheim, Anatomie I S.276 ff. (z.B. 277; 295-303); Höss (Broszat) "Auschwitz" dtv-dok. Nr.114 S.69/70).

 

Aus allem folgt die Einsicht, dass der SS-Staat nicht nur die Rechtserkenntnis seiner Unterworfenen, sondern ebenso ihre Willens- und Entschlusskraft, Recht zu tun, vielfach beschädigt und geschwächt hat.

 

Das Strafrecht erfasst das eine Moment lediglich als Irrtumsproblem - in einem engen, technischen Sinne, das andere als Frage des Notstandes bzw. Putativnotstands. Doch der juristische Begriff des Notstandes trifft ebenfalls nicht das Typische der Situation, den wirklichen Grund der Handlungslähmung unter totalitären Bedingungen: Den generellen - befehlsähnlichen - Verhaltensdruck, die Desavouierung intellektueller und emotionaler Alternativen, das Erlebnis allgemeiner Belanglosigkeit des Menschenlebens und der sichtbaren, von rauschendem