Justiz und NS-Verbrechen Bd.XL

Verfahren Nr.813 - 830 (1974 - 1976)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.830a LG Hamburg 09.03.1976 JuNSV Bd.XL S.823

 

Lfd.Nr.830a    LG Hamburg    09.03.1976    JuNSV Bd.XL S.849

 

Exekutionsgruben abverlangte: Dass beispielsweise hervorragende jüdische Rechtsgelehrte mit Schimpf und Schande von den Universitäten getrieben und von namhaften Kollegen unwidersprochen als Scharlatane und Kriminelle abgestempelt worden waren (vgl. Horst Göppinger: "Der Nationalsozialismus und die jüdischen Juristen", Villingen 1963, insbes. S.72-85; Eb. Schmidt: Einführung in die Geschichte usw. 3.Aufl. 1965, §§346, 347; Redeker in: Probleme der Verfolgung, S.C. 48 f. mit Nachw.).

 

Das Reichsgesetzblatt würde man - im nachherein - dem um Klarheit bemühten SS-Mann keinesfalls empfehlen können, denn die dort nachlesbare Judengesetzgebung - nimmt man das Gesetzblatt des Generalgouvernements dazu - versah nahezu alles, was im Osten mit den Juden getan wurde, mit dem Siegel des Rechts - bis hart an den Rand der Morde selbst, an den Gruben oder in den Gasöfen:

 

Durch Gesetz vom 7.4.1933 (RGBl. I, 175, §3) wurden jüdische Beamte zwangspensioniert; die Nürnberger Gesetze vom 15.9.1935 (ReichsbürgerG I, 1146 §2; BlutschutzG: I, 1146) machten die Juden zu Bürgern zweiter Klasse und unterwarfen sie weiteren Diskriminierungen und entwürdigenden Strafdrohungen. Die VO vom 17.8.1938 (I, 1044) gab ihre Namen obrigkeitlicher Willkür preis. Die bald nach dem 8.November 1938 erlassenen Verordnungen sind oben schon genannt (I 1579; 1581). Vorbereitungen zur "Sonderbehandlung", letztlich zum Mord, wurden durch die Ghetto-VO vom 28.1.1938 (I, 1676) eingeleitet; die Polizei-VO vom 1.9.1941 (I, 547) machte den "Judenstern" verbindlich. Dann wurde die allgemeine Zwangsarbeit für Juden verfügt (VO v. 3.10.1941 I, 675); die 11.VO zum ReichsbürgerG (25.11.1941 I, 722) entzog den Juden (bei Deportation) die deutsche Staatsangehörigkeit. Schliesslich wurden sie im Osten (wie auch die Polen) praktisch nach behördlichem Ermessen mit dem Tode bedroht (VO vom 4.12.1941 I, 759, z.B. Art.III 2). Den "rechtsförmigen" Abschluss dieses Weges im Reich bildet die VO vom 1.7.1943 (I, 372), welche die Juden dem Polizeirecht unterwarf. Im Verordnungsblatt des Generalgouvernements - dem Ort der "Endlösung" - liess sich, beginnend mit dem Oktober 1939 (VOBl.GG S.6) Entsprechendes nachlesen. Allerdings war der Ton dort härter, brutaler und offener als im RGBl. Die 3.VO über Aufenthaltsbeschränkungen vom 15.10.1941 (VOBl. S.595) setzte in §4b das allgemeine Mordprogramm voraus, indem sie die komplementäre Bestimmung traf, dass Juden, wenn ausserhalb des Ghettos aufgegriffen, mit dem Tode zu "bestrafen" seien. Dass alles dies als verbindlich und rechtens zu gelten hatte, konnte im Grundsatzbeschluss des Grossdeutschen Reichstages vom 26.4.1942 nachgelesen werden (RGBl. I S.247), demzufolge der Führer schlechthin über dem Gesetz stand, also jeden Mord anordnen oder - im nachherein - legitimieren konnte (vgl. schon das Gesetz vom 3.7.1934, RGBl. I S.529).

 

Kurzum: Eine Welt, wie sie in der Irrtumsrechtsprechung des BGH für den Normalfall zutreffend postuliert wird, war das nicht. Sie stand auf dem Kopf: Bei Staat und Gesellschaft durfte die rechtliche Gesinnung keine Ermutigung suchen. Vielmehr war - im hier relevanten Grenzbereich - Rechtstreue zum privaten Risiko geworden, das gegen den offiziell erzeugten Gesinnungs- und Verhaltensdruck und alle gepredigten Maximen, Lehren und Gesetze hätte gewagt werden müssen. Nicht draussen, sondern drinnen, im Gespräch hinter vorgehaltener Hand, im kleinen Zirkel Zweifelnder und Gefährdeter hätte das rechtliche Urteil Zuspruch und Bestätigung finden können.

 

In der Welt staatlich organisierten Mordens wird das Wert- und Rechtsbewusstsein des einzelnen privatisiert und systematisch verunsichert. "Umweltreaktionen und Konventionen hören auf, Regulative des Rechtsbewusstseins zu sein" (H. Jäger a.a.O. S.175), natürliche Impulse wie Rechtsgefühl und Gewissen werden diffamiert, treffen auf keine ihnen korrespondierende Realität mehr in staatlich-gesellschaftlicher Ordnung, sondern finden sich "verwirrenden Konträrwertungen" (H. Jäger a.a.O, dazu auch H. Arendt a.a.O. S.751) gegenübergestellt. Struktur und Realverfassung von Staat und Gesellschaft setzen persönlichen Moralvorstellungen und Handlungsspielräumen durchweg Grenzen, die nicht ohne weiteres