Justiz und NS-Verbrechen Bd.XL

Verfahren Nr.813 - 830 (1974 - 1976)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.830a LG Hamburg 09.03.1976 JuNSV Bd.XL S.823

 

Lfd.Nr.830a    LG Hamburg    09.03.1976    JuNSV Bd.XL S.848

 

gewesen sein: Wer fest an den Führer glaubte, kann kein kräftig entwickeltes, unanfechtbares Bewusstsein davon besessen haben, dass seine Befehle die schwersten Verbrechen bezweckten.

 

Der BGH beschäftigt sich in der erwähnten Grundsatzentscheidung mit der Unsicherheit und dem Zweifel dessen, der sich um rechtliche Einsicht bemüht oder bemühen sollte. Die Feststellungen treffen ebenso zu für den, der das Unrecht kennt, dessen Überzeugung aber nicht ausreichend sicher gegründet ist, einen Handlungsentschluss zu tragen, oder die sonst der Festigung bedarf:

"Der Mensch ist, weil er auf freie, sittliche Selbstbestimmung angelegt ist, auch jederzeit in die verantwortliche Entscheidung gerufen, sich als Teilhaber der Rechtsgemeinschaft rechtmässig zu verhalten und das Unrecht zu vermeiden. Dieser Pflicht genügt er nicht, wenn er nur das nicht tut, was ihm als Unrecht klar vor Augen steht. Vielmehr hat er bei allem, was er zu tun im Begriff steht, sich bewusst zu machen, ob es mit den Sätzen des rechtlichen Sollens im Einklang steht. Zweifel hat er durch Nachdenken oder Erkundigungen zu beseitigen. Hierzu bedarf es der Anspannung des Gewissens."

(BGH a.a.O. S.201)

 

Diese Maximen wären nun anzuwenden auf die Situation bestimmter NSG-Täter - z.B. auf einen jungen SS-Unterführer, der 1942 im Osten zur Ermordung von Juden eingesetzt wird. Die Ungeheuerlichkeit und Grausamkeit der Massenexekutionen und die offenbare Unschuld der Opfer machen das Unrecht augenfällig, trotz SS-Schulung, Drill, Gehorsam. Aber diese Erkenntnis ist noch kein Handlungsentschluss, sie trägt nicht ohne weiteres die Entscheidung, sich dem rechtswidrigen Ansinnen zu versagen: Dazu bedarf es im Zweifel der Bestätigung und des Zuspruchs anderer.

 

Der BGH bezeichnet den einzelnen zutreffend als "Teilhaber der Rechtsgemeinschaft":

 

Wirkliches Recht existiert nicht in Gesetzblättern, auch nicht im abstrakten individuellen Bewusstsein, sondern in der Gemeinschaft: In ihr "gilt" es; es tritt jedem wirklich entgegen in der erfahrenen Alltagspraxis; und eben deshalb ist es vernünftig, darüber im Zweifel Meinungen und Urteile anderer zu erfragen. Die Gefahr, an einen rechtsfeindlichen, verbrecherischen Auskunftspartner zu kommen, ist in einer Rechtsgemeinschaft gering, so gering, dass sie leicht in Kauf genommen werden kann.

 

Die Lage des SS-Mannes im "Judeneinsatz" war von Grund auf anders: Hätte er seine rechtliche Einsicht durch Gewissensanspannung: durch Nachdenken und Erkundigungen festigen wollen - wie hätte er das anstellen können, und was wäre dabei herausgekommen? So wie seine Welt beschaffen war, hätten Erkundigungen ihm die rechtlichen Skrupel eher ausgetrieben. Die Vorgesetzten erteilten die Exekutionsbefehle; im Schrifttum der SS wurden Treue und Gehorsam verordnet. Nach kritischen Gesichtspunkten brauchte er dort nicht zu suchen. In keiner Zeitung, keiner Meldung, keinem Kommentar, auf keiner Feier oder Veranstaltung wurde ernstlich eine Lanze gebrochen für Humanität oder "so ein Ding wie Recht" (vgl. Jäger a.a.O. 164 u. Anm.8, auch 183).

 

Hätte er tiefer bohren und die Elite der Nation nach dem Rechte befragen können, dann würde das Resultat sein Gewissen wohl endgültig beruhigt haben: Staatsrechtler hätten ihm erläutert, dass sein Glaube an die unverbrüchliche Geltung des Führerwillens durchaus einer tieferen juristischen Begründung fähig sei (vgl. z.B. Ilse Staff, Justiz im 3.Reich, Fi. 559, Frankfurt/M 1964 S.160-177; W. Hofer, Dokumente 1933-1945, Fi. 172, Frankfurt/M 1957 S.57/58; H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 1955 S.626/627 u. Anm.9 + 10). Er hätte gefunden, dass in den Höhen professoraler Geistigkeit schon Ähnliches geschehen war wie das, was man ihm - sehr viel vordergründiger und fasslich-blutiger - an den