Justiz und NS-Verbrechen Bd.XL

Verfahren Nr.813 - 830 (1974 - 1976)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.830a LG Hamburg 09.03.1976 JuNSV Bd.XL S.823

 

Lfd.Nr.830a    LG Hamburg    09.03.1976    JuNSV Bd.XL S.847

 

entweder ganz oder gar nicht besitzen muss, die mithin einer Steigerung oder Verminderung nicht fähig wäre. Das Rechtsbewusstsein kann - um nur die Extreme zu nennen - sicher, stark und handlungsorientiert sein oder blass, angefochten, schwächlich, abstrakt.

 

Seinerzeit waren mächtige Kräfte wirksam, die das Rechtsbewusstsein schwächten: Wie festgestellt, galt zwar das Verbot von Mord und Totschlag auch im Dritten Reich, zu Gunsten aller Menschen, mithin auch der Juden. Das Gesetz war weder aufgehoben noch eingeschränkt; es gab zwar irreguläre Todesdrohungen gegen Juden, die sogar im Reichsgesetzblatt standen (z.B. VO v. 4.12.1941 Ziff.1, RGBl. I S.759); aber sie verletzten höherrangiges Recht und waren nichtig. Die Tatsache, dass Judenmord straflos blieb, berührte nicht die rechtliche Geltung des Tötungsverbots. Fragen dieser Art sind eindeutig entscheidbar, und sie sind in Wissenschaft und Rechtsprechung zutreffend beantwortet worden (vgl. OGHSt. Bd.1, 324; BGHZ 3, 106; Welzel NJW 1964, 521; Arndt NJW 1964, 1310 Ziff.2; Baumann in Henkys, 2.Aufl. 1965 S.295/296; zu allem Radbruch: "Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht" (1946), abgedruckt in Rechtsphilosophie 1950 S.347 ff. (352-355) sowie "Fünf Minuten Rechtsphilosophie" (1945), a.a.O. S.335-337).

Aber: Dieses Recht, von dem wir zutreffend sagen, dass es damals massgebend war, bedeutete seinerzeit nur wenig. Staat und Gesellschaft traten für die Norm nicht ein, verschafften ihr keine Geltung - Geltung im Sinne sozialpsychologischer Wirklichkeit. In eben diesem Sinne musste damit die Rechtsgeltung ruiniert werden: Der praktische Erkenntnisgrund dafür, dass eine Norm von (straf)rechts wegen gilt, liegt im Zweifelsfall darin, dass ihre Verletzung bestraft wird. Wenn der Staat sich dieser Schutzpflicht entzieht, wirft er - für das allgemeine Bewusstsein - die Norm zurück auf einen lediglich moralisch-idealen Anspruch. Dann mag das Recht "als eine wenigstens verborgen wirksame Kraft ... im Bewusstsein des Volkes lebendig bleiben" (BGHSt. 5 StR 704/68 A.II.3 438). - in Ermangelung der richterlichen Überzeugung hiervon würde das Unrechtsbewusstsein der NSG-Täter regelmässig überhaupt verneint werden müssen. Aber ein seiner äusseren Machtlosigkeit wegen nur verborgen wirksames Recht wird seinem Wesen als Realordnung schwerlich gerecht.

 

Dieser psychologische Zusammenhang war den Nazis bewusst: Sie verlangten vom Einzelnen die Übernahme ihrer Rassenlehre nicht in der Radikalität, dass er selbst zum Judenmord hätte bereit sein müssen. Er sollte zunächst lernen, widerspruchslos hinzunehmen, dass der Staat den (selbst veranlassten) Normbruch hingehen liess, ohne die fällige Sanktion zu vollziehen. Das erschien als eine wenig riskante Methode, die Norm (zum Nachteil der Juden) verächtlich zu machen und anderen (z.B. SS-Angehörigen) den primären Normbruch (den Judenmord selbst) durch den Abbau auch rechtlicher Skrupel zu erleichtern. Für diesen Zusammenhang bietete die "Reichskristallnacht" mit der "rechtlichen" Behandlung ihrer Folgen (vgl. RGBl. 1938 I S.1589, 1581) vielfachen Beleg (vgl. Hermann Graml, "Der 9.November 1938", Schriftreihe der Bundeszentrale für Heimatdienst, Heft 2, 5.Aufl. 1957, insbesondere S.46 ff.; dazu allgemein Heinrich Popitz: Soziale Normen, Archiv. europ. sociol. (Paris) Bd.II (1961) S.185 ff. (insb. 194-196).

 

Dies alles wird - jedenfalls im Regelfalle der stets grausam und schrecklich vollzogenen Judenexekutionen - nicht zum Ausschluss des Unrechtsbewusstseins geführt haben können: Aber das Wissen des Täters um Recht und Verbrechen kann von der systematischen und staatlich gewollten Verunsicherung überkommener Rechtsvorstellungen und moralischer Selbstverständlichkeiten nicht schlechthin unberührt geblieben sein.

 

Schliesslich müssen für Stärke oder Schwäche rechtlicher Überzeugungen und Erkenntnisse in der Nazizeit Ideologie, Weltanschauung und Indoktrinierung von hervorragender Bedeutung

 

438 Siehe JuNSV Bd.XXVII S.126 (Lfd.Nr.662b).