Justiz und NS-Verbrechen Bd.XL

Verfahren Nr.813 - 830 (1974 - 1976)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.830a LG Hamburg 09.03.1976 JuNSV Bd.XL S.823

 

Lfd.Nr.830a    LG Hamburg    09.03.1976    JuNSV Bd.XL S.846

 

Dreher StGB 36.Aufl. Rz.9 zu §46). Soweit Rechtsvorschriften mit ihm unvereinbar sind, gelten sie nicht (Art.1 (3), 100 GG); muss eine Norm ausgelegt werden, kommt von mehreren an sich möglichen Interpretationen die zum Zuge, welche der Verfassung genügt. Die Drohung des §211 StGB mit lebenslanger Freiheitsstrafe würde den Schuldgrundsatz nur dann durchbrechen, wenn die Vorschrift es schlechthin ausschlösse, geminderte Schuld in gemilderte Strafe umzusetzen. Das ist - wie sich bei der gebotenen Auslegung zeigt - nicht der Fall:

 

Das Gesetz sieht bestimmte Gründe vor, die bei geminderter Schuld eine geringere Bestrafung vorschreiben oder zulassen (§§17 S.2, 21, 35 II; vgl. auch 13 II StGB). Mit Rücksicht auf die gesetzliche Wertung und ihre positiven Vertypungen ist es nach der Auffassung des Gerichts unter bestimmten Umständen auch sonst möglich und gegebenenfalls geboten, die Strafe aus Gründen herabgesetzter Schuld zu mildern. Diese Möglichkeit wird eröffnet, wenn der Täter unter aussergewöhnlichen Bedingungen gehandelt hat, diese besonderen Tatumstände den kodifizierten Schuldmilderungs- oder -ausschlussgründen strukturähnlich sind und der gesetzgeberischen Wertung in so hohem Masse gerecht werden, dass bei Ausschluss einer Milderungsmöglichkeit der vorrangige Schuldgrundsatz offensichtlich verletzt sein würde. Diese Auslegung folgt den methodischen Grundsätzen der Strafrechtswissenschaft; da die Verfassungsprinzipien, soweit hier von Interesse, auf diesem Wege gewahrt werden, ist §211 StGB nicht grundgesetzwidrig.

 

Das Schwurgericht ist demgemäss zu folgender Rechtsüberzeugung gelangt: Bei Verbrechen, die von den staatlichen Machthabern angeordnet und mit umfassenden psychischen und äusseren Machtmitteln durchgesetzt worden sind, deren Vorbereitungen und Anfänge förmlich als Recht galten und von der ganzen Gesellschaft fast widerspruchslos hingenommen worden sind, muss zu Gunsten des einzelnen Täters unter bestimmten Voraussetzungen die besondere Art der Verknüpfung persönlicher Schuld mit den vorgegebenen Strukturen staatlichen Terrors als übergesetzlicher Schuldmilderungsgrund anerkannt werden.

 

Im folgenden sollen

(a) die Gründe entwickelt werden, welche diese Überzeugung tragen;

(b) mögliche Bedenken, insbesondere rechtsdogmatischer Art, ausgeräumt werden, die ihr entgegengesetzt werden könnten.

 

(a) Grundlage des übergesetzlichen Schuldmilderungsgrundes wegen Verstrickung

 

Schuld - so erklärt der Grosse Strafsenat des BGH in einer Grundsatzentscheidung vom 18.3.1952 (Bd.2/194 ff. (200)) - ist Vorwerfbarkeit. Dem Täter wird vorgeworfen, sich für das Unrecht entschieden zu haben, obwohl er sich für das Recht hätte entscheiden können. "Voraussetzung dafür, dass der Mensch sich in freier, verantwortlicher, sittlicher Selbstbestimmung für das Recht und gegen das Unrecht entscheidet, ist die Kenntnis von Recht und Unrecht. Wer weiss, dass das, wozu er sich in Freiheit entschliesst, Unrecht ist, handelt schuldhaft, wenn er es gleichwohl tut" (BGH a.a.O. S.201).

 

Das ist die Frage nach dem Unrechtsbewusstsein, die im Falle Eickhoffs zu seinen Lasten entschieden worden ist. Aber sie muss jetzt noch einmal aufgenommen und erweitert werden: Oben war die Frage darauf zu beschränken, ob der Täter das angesonnene und ausgeführte Handeln für rechtlich erlaubt gehalten hat - unter Absehung davon, dass er mit gutem Grund annehmen konnte, den Willen der Staatsführung zu vollstrecken, also jener Autorität, die nicht nur allmächtig war sondern - nach derzeit unbestrittener Doktrin - Recht setzte. Die strikte Unterscheidung rechtlicher und ideologischer Vorstellungsinhalte ist zwar analytisch und psychologisch sinnvoll; aber mit ihr kann die Frage nach dem Grad der Schuld nicht entschieden werden. Dazu schöpft sie die komplexe Wirklichkeit viel zu wenig aus: Das Wissen um Recht und Unrecht ist keine intellektuelle Erkenntnis von der Art, dass ein Mensch sie