Justiz und NS-Verbrechen Bd.XL

Verfahren Nr.813 - 830 (1974 - 1976)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.830a LG Hamburg 09.03.1976 JuNSV Bd.XL S.823

 

Lfd.Nr.830a    LG Hamburg    09.03.1976    JuNSV Bd.XL S.845

 

Beide Bereiche wurden von der NS-Führung sehr wohl unterschieden, wie vor allem Buchheim und Herbert Jäger (Buchheim: Befehl und Gehorsam, Anatomie des SS-Staates I S.257 ff. / 314 ff., H. Jäger: "Verbrechen unter Totalitärer Herrschaft", 1967, S.163 ff. (170 f., 172/73) nachgewiesen haben. Die Führung wusste, dass radikale Aktionen wie die sog. "Euthanasie", Pogrome, gesetzlose Exekutionen oder gar Massentötungen sämtlich ausserhalb des Rahmens lagen, den das bestehende Recht setzte. Die Rechtsvorschriften, auch das strafrechtlich festgeschriebene Tötungsverbot (§§212, 211 StGB), galten - nicht nur formal; sie waren, trotz mancher Aufweichungen und Erschütterungen, im grossen und ganzen im Volksbewusstsein wirklich verankert. Deshalb brauchte die Führung Männer - "Kämpfer" -, die sich der Zukunft verpflichtet wussten, unbeschadet rechtlicher Ordnungen, deren Kenntnis gar nicht ausgeschlossen sein sollte, weil sie zumindest taktisch zu berücksichtigen blieben. Auf diese Rechtsordnung aber und sonst nichts ist das Unrechtsbewusstsein zu beziehen, das zur strafrechtlichen Schuld gehört.

 

Man wird bei NSG-Tätern allgemein davon ausgehen können, dass ihnen der Unterschied von Recht und "höherer Notwendigkeit", von geltendem Gesetz und Führerwillen bewusst geblieben ist, wie man dies für die SS- und Staatsführung auf Grund vielfacher Belege weiss. Das gilt auch für den Angeklagten Eickhoff. Der BGH geht regelmässig von dieser allgemeinen Voraussetzung aus: Ein "ungeheuerliches" Geschehen - willkürliche Tötungen, Entwürdigung der Opfer, grausames Exekutieren - trägt den Stempel der Rechtswidrigkeit so sichtbar auf der Stirn, dass die Annahme unausweichlich erscheint, dies könne auch dem Täter nicht verborgen geblieben sein (vgl. 5 StR 196/61 S.4 435; 4 StR 12/55 436 S.14/15 437; BGHSt. Bd.2/256; H. Jäger a.a.O. S.167/170 oben; 177/78). Das muss für den Angeklagten umso mehr gelten, als er tag-täglich das Elend, die Entwürdigung und Entrechtung der Häftlinge vor Augen hatte und dazu selbst nachhaltig beitrug. Deshalb hat er sich der Einsicht, dass hier Unrecht geschah, einfach nicht verschliessen können - so dass seine eigene Einlassung dazu im Ergebnis allerdings überzeugt.

 

4. Schuldmilderung

 

Damit steht fest, dass der Angeklagte des Mordes an mindestens 50 Menschen schuldig ist, und das Gericht stand vor der Frage, ob die Rechtsfolge lebenslanger Freiheitsstrafe mit dem Schuldspruch zwingend verknüpft ist.

 

§211 StGB ist gültig, auch soweit dort die Rechtsfolge lebenslanger Freiheitsstrafe angeordnet wird. Die Vorschrift verstösst weder gegen das Grundgesetz noch sonst vorrangiges Recht. Sie widerspricht nicht dem Schuldgrundsatz, demzufolge die Strafe das Mass der Tatschuld nicht überschreiten darf und lediglich in ihr die Grundlage findet (§46 StGB). Dieses Verständnis des Schuldprinzips als eines begrenzenden Massstabes gerechter und menschenwürdiger Strafrechtspflege (BGH vom 14.7.1971 Bd.24, 173 ff. (175, 177) liegt der Rechtsprechung des BVerfG (BVerfGE 6, 389 ff.; 20, 323 ff.) und des Bundesgerichtshofs (BGH v. 18.3.1952 Bd.2, 194 ff., 209; v. 14.7.1971 a.a.O.; v. 27.10.1970 in NJW 1971, 61; v. 4.8.1965 in NJW 1965, 2016 f.) zugrunde und wird in der Wissenschaft nachdrücklich vertreten und näher begründet (Jescheck, AT des StGB, 2.Aufl. 1972 S.14/15; Schmidthäuser, AT, 2.Aufl. 1975, 20/59; ders. Einführung i.d. StrafR., RoRoRo RW 12 S.164 ff. (insb. 164/5 + 185), Maurach AT, 4.Aufl 1971 §10 IA (S.106); Horn in system. Komm. z. StGB 1975 Rz.25 zu §46; Schönke-Schröder, Komm., 18.Aufl. 1976 Vorb. §38 Rz.5 ff., insb. 6, 13, 25; Roxin in JuS 1966, 377 ff. (insb. 384 Ziff.2 - 386 oben mit eingehender Begründung);

 

435 Siehe JuNSV Bd.XVIII S.473 (Lfd.Nr.535c).

436 Gemeint ist wohl: 4 StR 121/55.

437 Siehe JuNSV Bd.XII S.493 (Lfd.Nr.400b).