Justiz und NS-Verbrechen Bd.VIII

Verfahren Nr.260 - 297 (1950 - 1951)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

 

Lfd.Nr.295 LG Stuttgart 25.10.1951 JuNSV Bd.VIII S.785

 

Lfd.Nr.295    LG Stuttgart    25.10.1951    JuNSV Bd.VIII S.786

 

Der Angeklagte hatte im Lager Aistaig den Lagerinnendienst. Seine Aufgabe bestand darin, die Aufsicht über die Häftlinge zu führen, wenn diese von der Aussenarbeit ins Lager zurückgekehrt waren. Er musste insbesondere deren Vollzähligkeit feststellen, die Essensausgabe überwachen und anschliessend die Häftlinge in die Baracken einschliessen. Während der Nachtzeit hatte er zudem Kontrollgänge durch das Lager auszuführen. Eine Disziplinargewalt über die Häftlinge stand dem Angeklagten nicht zu. Vielmehr musste bei Disziplinwidrigkeiten an die Gestapo nach Stuttgart berichtet werden, die jeweils die erforderlichen Strafen verhängte und deren Vollstreckung im Polizeigefängnis Oberndorf anordnete.

 

Dem Angeklagten ist zur Last gelegt, in seiner Eigenschaft als Wachmann in der Zeit von 1941-1945

1. gemeinschaftlich mit dem stellvertretenden Lagerleiter H. den damals 18jährigen Häftling Missner, nachdem derselbe von einem Fluchtversuch bereits schwer verletzt ins Lager zurückgebracht worden war, derart heftige Schläge mit einem Farrenschwanz 227 über Kopf und Rücken versetzt zu haben, dass der Häftling noch am selben Tage an den Folgen dieser Misshandlung gestorben ist.

2. In 11 weiteren Fällen die Häftlinge Sauter, G., Taussig, Högg und 4 weitere namentlich nicht mehr feststellbare Häftlinge mit einem Gummiknüppel, einem Farrenschwanz, sowie durch Fusstritte mit dem Stiefel oder durch Faustschläge aus nichtigen Anlässen misshandelt zu haben, sowie 2 dieser Häftlinge habe fesseln und den Zeugen G. in einem sogenannten Stehbunker habe einsperren lassen.

 

Der Angeklagte wurde durch Urteil des französischen Tribunal Intermédiaire Reutlingen vom 28.7.1948 zu der Gefängnisstrafe von 3 Jahren verurteilt, weil er als Wachmann des Lagers Aistaig von 1941-1945 "der vorsätzlichen Körperverletzung und Gewalttätigkeit gegenüber alliierten Staatsangehörigen" für schuldig befunden wurde (Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach Art.II 1c des Kontrollratsgesetzes Nr.10). Diese Strafe hat der Angeklagte verbüsst.

 

Das Schwurgericht hatte zunächst die Frage zu prüfen, ob dieses Urteil des französischen Tribunals einer erneuten Verurteilung des Angeklagten als Prozesshindernis entgegenstand, d.h. ob die durch das französische Tribunal verhängte Strafe auch für die hier zur Anklage stehenden Vorgänge verhängt worden war und ob eine derartige Verurteilung durch ein Gericht der Besatzungsmacht die Anwendung des in Art.103 III des Grundgesetzes und Art.IV III der württ.-badischen Verfassung enthaltenen Rechtsgrundsatzes, dass niemand zweimal wegen derselben Tat gerichtlich bestraft werden darf (ne bis in idem) rechtfertigt.

 

Der Schuldspruch des Urteils des französischen Tribunals erwähnt nur die Misshandlung alliierter Staatsangehöriger. Hieraus könnte an sich gefolgert werden, dass mit diesem Urteil nur die Ausschreitungen gegenüber alliierten Staatsangehörigen abgeurteilt werden sollten. Gegen diese Annahme spricht jedoch die Begründung des Urteils, die dem Schuldspruch zu Grunde liegt. Es heisst hier. "In Anbetracht ferner, dass die Zeugen Josef Andre, Alfons Hanny, Franz Stegmaier, Christian Kochle und Theodor Halder erklären, dass der Angeklagte R. täglich den Insassen des Lagers Oberndorf Schläge versetzte und zwar mit Hilfe von Gummiknüppeln oder mit Ochsenziemern auf Gesicht und Kopf seiner Opfer ...". Die Verurteilung des Angeklagten wird auf diese Feststellung gestützt, die ganz allgemein dahin geht, dass der Angeklagte der Misshandlung von Häftlingen des Lagers Aistaig überführt wurde. Es wäre daher sinnwidrig, anzunehmen, dass das französische Militärgericht mit dieser Formulierung hätte nur feststellen wollen, dass der Angeklagte "täglich" nur alliierte Staatsangehörige geschlagen habe. Dass dies nicht die Absicht des französischen Tribunals war, wird durch die Aussagen der an dem Reutlinger Verfahren gegen den Angeklagten beteiligten Zeugen Martin Sch. und Josef Sch. vor dem Schwurgericht bestätigt. Diese beiden Zeugen haben übereinstimmend bekundet, dass es sich bei dem Verfahren vor dem französischen Tribunal nur um die Frage gehandelt habe, ob der Angeklagte Lagerhäftlinge - gleichviel welcher Nationalität sie gewesen sein mögen - geschlagen hat; sie haben weiter angegeben, dass Einzelfälle vor dem französischen Militärgericht nicht erörtert

 

227 = Ochsenziemer.