Justiz und NS-Verbrechen Bd.XLVI

Verfahren Nr.892 - 897 (1984 - 1985)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.897 LG Hagen 04.10.1985 JuNSV Bd.XLVI S.543

 

Lfd.Nr.897    LG Hagen    04.10.1985    JuNSV Bd.XLVI S.778

 

während der Entladung eines Transportes auf der Rampe gearbeitet hätte, wie von der Zeugin in ihren beiden frühen Angaben gesagt worden ist, und dass ein SS-Mann sich dabei mit ihr unterhalten hätte, wie sie 1945 berichtet hatte. Tatsächlich hat die Zeugin in der jetzigen Hauptverhandlung auch selbst entschieden in Abrede gestellt, auf der Rampe gearbeitet zu haben, die früher berichteten angeblichen Äusserungen Frenzels gehört zu haben, hat vielmehr darauf bestanden, dass ihre ab 1950 abgegebenen Aussagen zutreffend seien, sie habe sich in der Baracke, in dem Haus an der Rampe befunden. Nach den über die Ortsbesichtigung vermittelten Erkenntnissen wäre allerdings eine Beobachtung vom Holzhaus Nr.11 (Vorlager) auf die Waggons möglich gewesen, dazwischen stehende Loren würden diese, je nach Bauart, sehr erschweren.

 

Die noch 1945 eingefügten, angeblich vom Angeklagten an sie gerichteten Worte: "Komm her, Du wirst ein tröstendes Bild sehen" und weiter "Wie gefällt es Dir?" hat sie später gleichfalls nicht berichtet; darüber hinaus hat sie sogar deutlich gemacht, dass sie nur durch Zufall und so, dass sie hinter der Gardine stehend der Gefahr entdeckt zu werden, entgehen konnte, überhaupt den Ablauf der Geschehnisse sehen, irgendwelche Gespräche jedoch nicht hören konnte. Abgesehen davon, dass, wie bereits im Zusammenhang mit der Behandlung des "Lemberg-Transportes" dargestellt, es gerade auch die Zeugin Raa. gewesen ist, die - allerdings für den damaligen Beschuldigten Wol. - eine wörtliche Rede schildert, die eine gewisse Ähnlichkeit zu der widerspiegelt, die sie 1945 für Frenzel bekundet hat, zeigt die Vernehmung im ersten Hauptverfahren gegen G., dass sie zu jenem eine Begebenheit anlässlich des Transportes aus Wilna berichtet, die in vielen Einzelheiten kongruent ist mit der zuvor in bezug auf Frenzel berichteten, wobei auch G. schon 1945 aufgeführt worden war und die sich eben auch anlässlich des Transportes aus Wilna ereignet haben soll.

 

Im späteren Wiederaufnahmeverfahren G. hat sie dann recht unterschiedliche Versionen abgegeben, um wenigstens ein - nur noch entfernt ähnliches - Geschehen als selbst beobachtet plausibel zu machen, das sie von den Sortierbaracken aus erlebt haben will, das mit der Beschäftigung G.s bei der Verladung von Gehunfähigen, Kranken und Alten auf Loren und dem sich anschliessenden Abtransport zusammenhängen soll.

 

Festzustellen bleibt, da die einzelnen Aussagen nicht nur in Nebensächlichkeiten, sondern auch in wichtigen Punkten, die eng mit dem Kerngeschehen zusammenhängen, sich widersprechen, dass von einer früher angenommenen Aussagekonstanz dieser Zeugin nicht mehr gesprochen werden kann. Berücksichtigend, dass die Zeugin erst nach etwa 2 Jahrzehnten zu der Aussage gefunden hat, die sie - allerdings von da ab im wesentlichen konstant - durchgehalten hat, überzeugt die Kammer auch das Argument nicht, dass es einem Zeugen schlechterdings nur möglich wäre, diese Konstanz über 4 Vernehmungen hinweg zu bewahren, wenn er sich dabei auf die Erinnerung an ein wirklich so stattgefunden habendes Ereignis stützen könne. Nach dem persönlichen Eindruck der Kammer von dieser hoch intelligenten Zeugin hält es das Gericht für durchaus vorstellbar, dass sie die vielfältig miterlebten Grausamkeiten, die im Lager auf sie unzweifelhaft eingewirkt haben, sehr früh mit Frenzel, der ihr als Leiter des Lagers I und ohnehin als einer der schlimmsten deutschen Wachmänner des Lagers bekannt war, identifiziert hat. Das Schwurgericht hat von der Zeugin den Eindruck gewonnen, dass sie möglicherweise, vor allem kurz nach Kriegsende, nicht in der Lage war, die Vorgänge dort genügend sachlich und frei von Überzeichnungen darzustellen, dass sie bewusst oder unbewusst ein konkretes, vielleicht ähnliches, selbst gehabtes oder von anderen gehörtes Erlebnis auf den Deutschen übertragen hat, der für sie in der Lagerwirklichkeit ohnehin der wichtigste, ihr Leben bestimmender Aufseher gewesen ist. Für die Kammer unterliegt es keinem Zweifel, dass Frau Raa. intellektuell in der Lage gewesen ist, ihre frühen, unstimmigen, in wichtigen Punkten objektiv falschen Berichte im Rahmen des Verfahrens gegen Frenzel schlüssig zu machen und dann im wesentlichen gleichbleibend zu wiederholen, auch über Jahrzehnte.