Justiz und NS-Verbrechen Bd.XLVI

Verfahren Nr.892 - 897 (1984 - 1985)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.897 LG Hagen 04.10.1985 JuNSV Bd.XLVI S.543

 

Lfd.Nr.897    LG Hagen    04.10.1985    JuNSV Bd.XLVI S.777

 

mit den Eingeweiden gespielt habe. Das sei "mal etwas ganz besonderes gewesen".

Während der Hauptverhandlung vor dem Schwurgericht Hagen hatte sie sich, ebenso wie bei den späteren Vernehmungsgelegenheiten im Probationsverfahren und in der jetzigen Hauptverhandlung gleichbleibend u.a. so geäussert:

"Ich habe gesehen, wie ein Transport ankam. Eine Mutter liess ihr Kind im Waggon. Ich sah, wie Frenzel dann das Kind an den Beinchen fasste und mit dem Kopf gegen die Waggonwand schlug. Der Kopf platzte. Die Rampe war etwas breiter als die Lagerstrasse. Ich konnte alles gut beobachten. Ich konnte Frenzel gut sehen. Um Frenzel waren in diesem Moment kaum Leute. Ich kannte Frenzel zu der Zeit gut. Ich habe nur einmal die Rampe beobachtet. Wir durften nicht zur Rampe."

 

In der Vernehmung nun während des Wiederaufnahme-(Probations-)Verfahrens hat sie diese Schilderung bestätigt und zusätzlich klargestellt, dass das Haus Nr.11 des Vorlagers, das sie als Baracke bezeichnet habe, ein Holzhaus gewesen sei, das vor Entstehen des Lagers bereits gestanden habe. Sie habe damals an einem der Rampe zugewandten Fenster des Hauses hinter der Gardine gestanden, und zwar im Erdgeschoss. Sie meint, als Vorgarten habe es nur einen kleinen Grasstreifen dort gegeben. Nach der Schilderung des Kerngeschehens, die mit derjenigen in der Hauptverhandlung 1965 übereinstimmt, erklärt sie abschliessend, jenes schreckliche Ereignis könne sie nicht vergessen. Auf Frage fügt sie hinzu, das Kind habe geschrieen, es habe nahe der geöffneten Wagentür gelegen, etwa in Mitte der Tür. Der Güterwagen habe in ihrer Blickrichtung gesehen, leicht nach links versetzt vor dem Fenster gestanden und die Sicht sei nicht behindert gewesen. Auf der Rampe sei sie bei Transportankünften niemals gewesen.

 

Die Zeugin Raa. hat in der jetzigen Hauptverhandlung zu einigen anderen markanten Einzelpunkten ihrer Gesamtaussagen eingeräumt, dass sie etwa im Zusammenhang mit der Schilderung des Transportes aus Biala-Podlaska - 1963 hatte sie bekundet, jenen selbst miterlebt zu haben - wiederholt so ihre Aussage eingerichtet habe, als spreche sie von selbst erlebten Vorgängen, obwohl sie von jenen in Wahrheit nur gehört gehabt habe. Für den Fall des totgeschlagenen Babys müsse sie aber dabei bleiben, dass sie diesen Fall stets so geschildert habe, wie sie es jetzt tue. Die ihr vorgehaltenen Widersprüche erkläre sie damit, dass sie entweder solche Aussagen überhaupt nicht gemacht habe oder von dem Protokollanten falsch verstanden worden sei und, weil sie nicht gewusst habe, was dort niedergeschrieben worden sei, die Fehler nicht bemerkt habe. Auf weitere Vorhalte hat sie schliesslich erklärt, es sei auf der Rampe so viel durcheinander gegangen, so dass sie, wenn sie zurückdenke, nicht mehr alles richtig trennen könne; manchmal komme es ihr vor, als habe Frenzel das getötete Baby in den Waggon zurückgeworfen, ein anderes Mal meine sie wiederum, er habe es in eine Lore geworfen, die dort bereitgestanden habe. So habe sie heute keine Erklärung, wie es zu den Widersprüchlichkeiten in ihren Aussagen gekommen sei. Es sei auch wohl richtig, dass sie gegenüber dem Buchautor Rashke die ihr vorgehaltene letztgenannte Darstellung berichtet habe, wonach Frenzel das totgeschlagene Baby in eine Lore geschleudert habe.

 

Die Kammer ist, trotz der entgegenstehenden Aussage von Frau Raa., gestützt insbesondere auf die Aussage des Zeugen Samuel Ler. hierzu, davon überzeugt, dass jene Passage in dem Bericht des Jahres 1945, die vorstehend zitiert worden ist, auf Frau Raa. unmittelbar zurückgeht. Hierfür und dass sie richtig niedergelegt worden ist, spricht auch die Ähnlichkeit zu der Darstellung des Vorfalls in der Aussage vor der polnischen Militärmission im September 1949. Berücksichtigend, dass der früheste Bericht in einem zeitlichen Abstand von "nur" 2 Jahren seit der Lagerzeit abgegeben worden ist, wäre zu erwarten gewesen, dass die Erinnerung der Zeugin zu jenem Zeitpunkt noch vergleichsweise gut, ihre Schilderung damit recht genau wäre. Diese war aber zumindest in einem wichtigen Detail falsch; es ist - nach den Bekundungen aller Zeugen - als ausgeschlossen anzusehen, dass ein weiblicher Häftling