Justiz und NS-Verbrechen Bd.XLVI

Verfahren Nr.892 - 897 (1984 - 1985)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.897 LG Hagen 04.10.1985 JuNSV Bd.XLVI S.543

 

Lfd.Nr.897    LG Hagen    04.10.1985    JuNSV Bd.XLVI S.774

 

seien. Generell sei es so gewesen, dass das Bahnhofskommando, das für diese Tätigkeiten zuständig gewesen sei, an der Rampe auf den Transport gewartet habe; ausserdem hätten in der Sortierbaracke noch etwa 15 bis 20 Mann als zusätzliche Kräfte bereitgestanden. Während der eigentlichen Transportabwicklung seien dann alle übrigen Arbeitshäftlinge im Lager I eingeschlossen worden. Er halte es von daher für unzutreffend, wenn die Zeugin Raa., die ihn mit diesem Vorwurf belaste, behaupte, sie habe sich zum Zeitpunkt einer Transportabwicklung in der Nähe der Rampe, und sei es auch nur in der Baracke, in der K. gewohnt habe, aufgehalten. Für die Reinigung jener Baracke seien die ukrainischen Frauen zuständig gewesen und ein Unterführer sei dafür eingeteilt gewesen, dass die jüdischen Arbeitshäftlinge vor der Ankunft eines Transportes weggekommen und im Lager I eingeschlossen worden seien.

 

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist diese Einlassung des Angeklagten nicht mit der für seine Verurteilung erforderlichen Sicherheit widerlegt, die ihm zur Last gelegte Handlung nicht bewiesen worden.

 

Abgesehen davon, dass es mehrere, sehr allgemein gehaltene Bekundungen von Zeugen gibt, die in früheren Ermittlungs- bzw. Strafverfahren abgegeben worden sind, die mehr oder weniger unspezifisch derartige Taten bestimmten Deutschen zuordnen, und dass diese allgemein gesehen allenfalls eine Bestätigung bringen könnten, dass so etwas prinzipiell vorgekommen sei, stützt sich der gegen den Angeklagten hier erhobene Vorwurf ausschliesslich auf die Aussagen der Zeugin Esther Raa.

 

Die Zeugin Raa. ist in der jetzigen Hauptverhandlung auch zu diesem Einzelfall ausführlich vernommen worden, hat auch ihren, den Angeklagten belastenden Vorwurf im Kern aufrecht erhalten. Die Kammer hat von der Zeugin den Eindruck gewonnen, dass sie zutiefst davon überzeugt ist, dass der Angeklagte die Tat so begangen hat, wie sie, die Zeugin, diese in der jetzigen Hauptverhandlung geschildert hat. Wie wenige andere Zeugen hat Frau Raa. über die etwa 4 Jahrzehnte, die zwischen jenem Geschehensablauf im Lager Sobibor insgesamt und der jetzigen Vernehmungssituation vergangen sind, ihre tiefe emotionale Berührtheit behalten. Während die meisten Zeugen sich innerlich von den Vorgängen gelöst haben, bewusst oder unbewusst verdrängt haben, was sie seinerzeit zutiefst verletzt hat, hat diese Zeugin in der Hauptverhandlung deutlich gemacht, dass sie nicht vergessen will, was ihr und ihresgleichen insgesamt angetan worden ist, dass sie die damaligen Täter noch immer hasst. Die Zeugin hat nicht zuletzt dadurch, dass sie zu ihrer verständlichen tiefen Abneigung gegenüber dem Angeklagten und seinesgleichen steht und diese Gefühle offenbar werden lässt, den persönlichen Eindruck vermittelt, dass sie um "ihre" Wahrheit bemüht ist, diese bekunden will.

 

Zu diesem Geschehen des Falles 21 hat sie bekundet, obwohl es reguläre Putzfrauen gegeben habe, die die Räume in den deutschen Baracken nahe der Rampe gereinigt hätten, habe sie wohl mal eines Tages helfen müssen, weil es schnell gehen musste. Sie habe dann die Lok pfeifen gehört und ein Transport sei reingekommen. Sie sei dort geblieben in der Baracke, während mit dem Entladen begonnen worden sei. Sie habe das Schreien gehört, habe sich hinter einen Vorhang gestellt und aus dem Fenster geschaut. So habe sie gesehen, wie dieser Mörder (gemeint war Frenzel) ein kleines Baby an den Füssen genommen, es gegen den Waggon geschlagen und zurückgeworfen habe wie eine tote Ratte. Das Baby habe nicht mal gewusst, was ein Jude sei, das werde sie bis zu ihrem Todestag nicht vergessen. In dem Haus sei sie zusammen mit dem diensthabenden Mädchen gewesen. Das habe sie nicht gerufen; das sei nur so ein Moment gewesen. Wenn ein Transport gekommen sei, sei man ganz unbeweglich geworden; die Beobachtung habe sie aus dem Erdgeschoss gemacht.

 

Sie hat dann über ihre Beobachtungsposition geschildert, dass sie glaube, dass zwischen dem Haus und der Bahnrampe kein Zaun gewesen sei; wenn es einen solchen gegeben habe, dann