Justiz und NS-Verbrechen Bd.XLVI

Verfahren Nr.892 - 897 (1984 - 1985)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

> zum Inhaltsverzeichnis

Lfd.Nr.897 LG Hagen 04.10.1985 JuNSV Bd.XLVI S.543

 

Lfd.Nr.897    LG Hagen    04.10.1985    JuNSV Bd.XLVI S.772

 

Im Rahmen des Wiederaufnahmeverfahrens G. 460 hat der 1974 kommissarisch vernommene Zeuge dieses Kerngeschehen mit einer Hinzufügung wiederholt, nämlich der präzisierenden Angabe, dass der Jude auch getroffen und dadurch getötet worden sei; er ihn jedenfalls für tot gehalten, weiter zur Lore geschleift und ihn dort hineingeworfen habe.

 

In einem deutlichen Widerspruch zu diesen Bekundungen stehen Aussagen, die der Zeuge, wie sich erst im Rahmen des jetzigen Wiederaufnahmeverfahrens herausgestellt hat, bei anderen Gelegenheiten über den angesprochenen Vorfall gemacht hat. Das Wortprotokoll aus der Hauptverhandlung gegen Eichmann vom 5.Juni 1961 verhält sich über den Teil der Aussage Fre.s, der sich unzweifelhaft mit dem Kerngeschehen beschäftigt, wie folgt: "Inmitten des Weges, als ich sah, dass niemand da war, liess ich die Leiche liegen und setzte mich hin, um zu ruhen; jedoch der Tote, den ich totgeglaubt hatte, fragte mich: "Ist es noch weit?" Mit schwacher Stimme, anscheinend die letzte Anstrengung des Sterbenden. Ich konnte ihn nicht mehr schleppen. Ich legte meine Hand um seinen Nacken. Ich konnte nicht weiter, aber in einer gewissen Minute fühlte ich Prügel im Rücken; es war Frenzel, er schlug mich am ganzen Körper und wieder nun mit letzter Kraft brachte ich den Sterbenden zum Ziel." Obwohl das Gesamtprotokoll der Fre.-Aussage belegt, dass gerade der Zeuge Fre. ausführlich die auch von ihm wahrgenommene Gelegenheit hatte, Einzelheiten seiner Erlebnisse in Sobibor und auch diesen Vorfall zu schildern, hat er einerseits nichts darüber gesagt, dass Frenzel auf den von ihm geschleppten Menschen geschossen habe, andererseits sogar davon gesprochen, "den Sterbenden" zum Ziel gebracht zu haben.

 

Liesse diese Aussage immerhin noch für möglich erscheinen, es habe sich um eine ungenaue Niederschrift oder missverstandene Übersetzung gehandelt, offenbaren zwei weitere mittlerweile bekannt gewordene Berichte die Widersprüchlichkeit der Darstellungen, vor allem besagen auch diese nichts darüber, dass Frenzel auf den von Fre. geschleppten Juden geschossen habe. In einem zwar undatierten, aber zweifelsfrei im Ermittlungsverfahren für den Eichmann-Prozess etwa Ende 1960 / Anfang 1961 in Briefform, also ohne Vernehmungsdruck, geschriebenen Bericht des Zeugen Fre. an die Israel-Polizei heisst es in der sonst ausserordentlich detailliert abgefassten Darstellung über die Lagerzeit hierzu:

"Der Mann, den ich die ganze Zeit für tot hielt, richtete sich auf, sah mich mit grossen Augen an und fragte mich: "Ist der Weg noch weit?" Diese Worte brachte er mit grösster Anstrengung heraus und fiel wieder hin ... Der SS-Mann Frenzel kreischte und peitschte auf mich ein. Ich packte den Tot-Lebenden an seinen Füssen und zog ihn bis zu den Loren."

Noch deutlicher wird der Widerspruch in dem Bericht des Zeugen Fre. vom 25.Juli 1945, abgegeben gegenüber Bluna Wasser in Lodz/Polen, in dem es über den Vorgang in dem fraglichen Augenblick heisst:

"Während ich die Toten schleppte, war ich einmal so schnell, dass ich merkte, dass keiner mich sieht; so habe ich mich etwas hingesetzt, um mich auszuruhen. Auf einmal sehe ich, dass der Tote sich aufrichtet und mich fragt: "Ist es noch ein weiter Weg?" Nun, als ich sah, dass der Tote lebt, so habe ich ihn aufgerichtet, aufgestellt, gestützt und so weiter geführt. Zweimal ist er hingefallen. Auf einmal bemerkte mich ein Deutscher und fing an, mich zu schlagen. So blieb mir keine andere Wahl, ich musste den lebenden Menschen wieder hinlegen und ihn am Fuss schleppen."

 

Einen persönlichen Eindruck hat sich das Gericht von dem Zeugen Fre. nicht mehr verschaffen können, mit ihm auch die unzweifelhaften Widersprüchlichkeiten nicht erörtern können, die in jenen Berichten zum Kerngeschehen bestehen. Der Umstand, dass das vorgelagerte

 

460 Siehe Lfd.Nr.885.