Justiz und NS-Verbrechen Bd.XLVI

Verfahren Nr.892 - 897 (1984 - 1985)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.897 LG Hagen 04.10.1985 JuNSV Bd.XLVI S.543

 

Lfd.Nr.897    LG Hagen    04.10.1985    JuNSV Bd.XLVI S.765

 

dass er hiervon spürbar enthemmt worden wäre. Die vereinzelt gebliebenen Bekundungen von Zeugen, die auf Alkoholmissbrauch einzelner deutscher Wachmänner hindeuten, haben ebenfalls nicht genügend Anhaltspunkte dafür gegeben, dass der Angeklagte Taten, sei es auch vereinzelt, unter erheblichem Alkoholeinfluss begangen hätte.

 

Nach dem überzeugenden Gutachten des Sachverständigen Prof.Dr.Dr. Bre. kommt weder unter psychologischen noch unter psychiatrischen Gesichtspunkten die Anwendung einer der in §20 StGB aufgeführten Alternativen in Betracht.

 

Der Sachverständige hat zunächst einmal überzeugend dargelegt, dass er die notwendige Sachkunde besitzt und dass ihm in ausreichendem Umfange die Anknüpfungstatsachen bekannt gewesen sind, um im vorliegenden Fall die erforderlichen Beurteilungsgrundlagen zu besitzen, um eine gutachterliche Äusserung in diesem speziellen Fall abzugeben. Er hat insbesondere in überzeugender Weise dargelegt, dass ihm aus mehreren Strafverfahren, in denen er gutachterlich tätig gewesen ist, ausserdem aus eigener Erfahrung genügend über die historischen Zusammenhänge einerseits, der speziellen Situation in Vernichtungslägern andererseits bekannt ist, um sich zu den psychologischen und psychiatrischen Problemen äussern zu können und dass es für ein hierzu abzugebendes Gutachten nicht erforderlich gewesen ist, die Beweisaufnahme mit zu verfolgen, zur Vorbereitung des Gutachtens an der Beweisaufnahme teilzunehmen.

 

Er hat dargelegt, dass das Handeln der Mitglieder eines derartigen Vernichtungslagers auch unter einem kollektiven, einem Gruppenaspekt zu sehen sei. Er hat zur Überzeugung der Kammer zutreffend ausgeführt, dass auch unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Zeit, der Eingebundenheit des Angeklagten in eine feste Struktur des Befehlsgebens und -nehmens und des Umstandes, dass Frenzel seiner Persönlichkeit nach ein zur Überanpassung neigender, leicht beeinflussbarer Mensch ist, dass sich hieraus aber nicht in der Person des Angeklagten oder seiner Eingebundenheit in die Rolle des dort im Lager wirkenden Wachmannes Gesichtspunkte ergeben, die unter einen der 4 Begriffe fallen würden, die die Schuldunfähigkeit definieren, nämlich der krankhaften seelischen Störung, des Schwachsinns, der tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder der schweren anderen seelischen Abartigkeit. Überzeugend hat der Sachverständige belegt, dass Frenzel zwar in seiner Kritikfähigkeit durch Herkunft und Erziehung, insbesondere durch nationalsozialistische Propagandaeinflüsse beeinträchtigt war und persönlich dahin disponiert war, Befehle bereitwillig auszuführen, dass jedoch das tatsächliche Verhalten des Angeklagten in jener Zeit, auch eingedenk der Besonderheiten des abgeschiedenen Lagers und der besonderen gruppendynamischen Kräften, die zwischen den Wachmännern einerseits und im Verhältnis zu den ihnen schutzlos ausgelieferten jüdischen Menschen andererseits sich entwickelten, keinerlei konkrete Anknüpfungsgesichtspunkte für die Annahme ergibt, der Angeklagte habe im Zustand einer (affektiv besetzten) tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder schweren anderen seelischen Abartigkeit gehandelt, erst recht stütze nichts die Annahme einer krankhaften seelischen Störung oder eines Schwachsinns.

 

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme im übrigen, insbesondere hierzu auch aufgrund des eingehenden und überzeugenden Gutachten des Sachverständigen Prof.Dr. Sche., dem das Gericht sich auch in diesem Punkt nach eingehender Prüfung angeschlossen hat, ist davon auszugehen, dass eine Zwangs- und Notstandssituation in der vom Angeklagten auch nur vage angedeuteten Form für diesen in Sobibor objektiv nicht bestanden hat.

 

Prof.Dr. Sche. hat an einer grösseren Zahl von Strafverfahren teilgenommen, die nationalsozialistische Gewaltverbrechen zum Gegenstand hatten. Aus dieser Zahl von Verfahren heraus sind ihm die Zeugenaussagen bekannt. Auch das Gericht hat einen Teil solcher Aussagen verlesen, die zu der Behauptung gemacht worden sind, Mitglieder von Lagermannschaften hätten im Falle einer Verweigerung der ihnen von den Vorgesetzten erteilten verbrecherischen