Justiz und NS-Verbrechen Bd.VIII

Verfahren Nr.260 - 297 (1950 - 1951)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.293a LG Kassel 12.10.1951 JuNSV Bd.VIII S.745

 

Lfd.Nr.293a    LG Kassel    12.10.1951    JuNSV Bd.VIII S.756

 

Klärung feststellen, dass die beiden Erlasse die Handlung des Angeklagten Ha. nicht zu rechtfertigen vermögen. Beide Erlasse stellen eine gültige Rechtsnorm nicht dar, da sie beide weder als Gesetz noch als Rechtsverordnung ergangen sind. Auch unter der nationalsozialistischen Herrschaft war die Verkündung im Reichsgesetzblatt förmliche Voraussetzung für das Zustandekommen einer gültigen Rechtsnorm. Ohne eine solche Verkündung kann der Erlass nicht als gültige Rechtsnorm anerkannt werden. Da es somit schon an der förmlichen Gültigkeit des Katastrophenerlasses fehlt, bedurfte es keines Eingehens auf die Frage, ob sich seine Ungültigkeit nicht auch aus seiner Unvereinbarkeit mit der Rechtsordnung ergab.

 

Nach alledem stellt sich die Weitergabe des Erschiessungsbefehls durch den Angeklagten Ha. als rechtswidrig dar.

 

VI.

 

Der Angeklagte Ha. kann jedoch nicht bestraft werden, weil ihm der Schuldausschliessungsgrund des §47 MStGB zur Seite steht. Da er zur Zeit der Tat der Wehrmacht angehörte, findet §47 MStGB auf ihn Anwendung. Dessen Voraussetzungen liegen vor. Der Erschiessungsbefehl, den der Angeklagte erhalten hat, war ein Befehl in Dienstsachen. Unter "Dienstsachen" ist jedes Verhältnis zu verstehen, zu dessen Ordnung aus dem Wesen der militärischen Macht heraus eine Tätigkeit erforderlich ist (Romen-Rissom, Anm.12b zu §47 MStGB). Die Pflicht, in der Festung Kassel für Ruhe, Ordnung und Sicherheit zu sorgen, gehörte in diesem Sinne zu den Obliegenheiten der Truppe. Der Befehl, gegen Mörder und Plünderer vorzugehen, bezog sich auf eine dienstliche Obliegenheit des Bataillons und ist somit als Dienstsache im Sinne des §47 MStGB anzusehen. Es kann in diesem Zusammenhang dahingestellt bleiben, ob der Befehl tatsächlich von einem Dienstvorgesetzten des Angeklagten Ha. erteilt worden ist. Es genügt insoweit für die Anwendung von §47 MStGB, dass der Angeklagte geglaubt hat, den Befehl von dem Angeklagten T. erhalten zu haben, den er nach seiner unwiderlegten Einlassung auch nach seiner Unterstellung unter die Wehrmacht für seinen unmittelbaren Dienstvorgesetzten mit voller militärischer Befehlsgewalt gehalten hat.

 

Es ist vorliegend auch nicht der Ausnahmefall des §47 Ziffer 2 MStGB gegeben. Dem Angeklagten Ha. war nicht bekannt, dass der Erschiessungsbefehl ein bürgerliches Verbrechen bezweckte. Der einem Befehl in Dienstsachen Gehorchende haftet nur, wenn ihm nicht nur bekannt war, dass die auszuführende Handlung den Tatbestand einer strafbaren Handlung erfüllte, sondern er auch wusste, dass der Vorgesetzte die Handlung im Bewusstsein ihrer Rechtswidrigkeit und Strafbarkeit befohlen hatte. Um bestraft werden zu können, hätte der Angeklagte Ha. also wissen müssen, dass ihm der Befehl in der Absicht erteilt sei, durch das Mittel der Begehung eines Verbrechens einen rechtswidrigen Zweck zu erreichen (Romen-Rissom, Anm.14 zu §47 MStGB).

Es mag dahingestellt bleiben, ob der Erschiessungsbefehl an den Angeklagten Ha. in der Absicht erteilt worden ist, einen rechtswidrigen Zweck zu erreichen. Denn jedenfalls rechtfertigt der vom Schwurgericht festgestellte Sachverhalt nicht die Annahme, dass der Angeklagte Ha. eine solche Absicht, wenn sie überhaupt vorhanden war, erkannt hat. Der Angeklagte Ha., der ein Mann von einfacher Bildungsart ist, ist schon auf Grund der häufigen Belehrung über die Notwendigkeit rücksichtslosen Vorgehens gegen Plünderer, insbesondere auch auf Grund der noch am 30.3.1945 um 4 Uhr in diesem Sinne von dem Zeugen E. erteilten Belehrung nicht auf den Gedanken gekommen, einen auf einen rechtswidrigen Zweck gerichteten Befehl erhalten zu haben. Unerheblich ist, ob diese Unkenntnis des Angeklagten Ha. auf Fahrlässigkeit beruht hat. Der Untergebene ist zu Nachforschungen oder Erwägungen nicht verpflichtet (Romen-Rissom, Anm.14 zu §47 MStGB). Fahrlässigkeit bei der Prüfung oder vorhandene Zweifel machen den Untergebenen strafrechtlich nicht strafbar.

 

Der Angeklagte Ha. war deshalb von dem Vorwurf des Totschlags wegen Fehlens der Schuld freizusprechen.

 

Der Angeklagte Ha. war auch nicht wegen fahrlässiger Tötung zu verurteilen. Dieser