Justiz und NS-Verbrechen Bd.VIII

Verfahren Nr.260 - 297 (1950 - 1951)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.293a LG Kassel 12.10.1951 JuNSV Bd.VIII S.745

 

Lfd.Nr.293a    LG Kassel    12.10.1951    JuNSV Bd.VIII S.755

 

Diese Voraussetzung ist jedoch nicht erfüllt. Es mag in diesem Zusammenhang unerörtert bleiben, ob überhaupt Fälle denkbar sind, in denen die Rücksicht auf ein höherwertiges Rechtsgut die Hinrichtung eines Menschen ohne vorangegangenen Richterspruch und ohne Beachtung der von der Rechtsordnung für die Hinrichtung vorgeschriebenen Förmlichkeiten zu rechtfertigen vermag. Diese Rechtfertigung ist jedenfalls dann zu verneinen, wenn die eigenmächtige und formlose Hinrichtung in einer Lage erfolgt, in der die Beobachtung der für die Verurteilung und Hinrichtung eines Rechtsbrechers ergangenen Vorschriften noch möglich ist. In der Nacht vom 30. zum 31.3.1945 bestand aber in Kassel die Möglichkeit, die 5 Ausländer einem Gericht vorzuführen. Wenn auch die ordentliche Gerichtsbarkeit nicht mehr bestand, ordentliche Militärgerichte nicht vorhanden waren und auch ständige Standgerichte nicht bestanden, so hätte doch ein militärisches Standgericht gebildet werden können. Ein solches Standgericht hätte nach §13a der Kriegsstrafverfahrensordnung ohne weiteres von dem Zeugen E. als Kampfkommandanten, dem noch ein Stab von Offizieren zur Seite stand, zur Aburteilung der 5 Ausländer gebildet werden können. Der Bildung eines solchen Standgerichtes hätte auch nicht entgegengestanden, dass es sich bei den zu verurteilenden Personen um Ausländer handelte. Denn mit der Erklärung Kassels zur Festung waren alle Insassen der Festung ohne weiteres der militärischen Gerichtsbarkeit unterstellt. Sie hätten deshalb auch vor ein Standgericht gestellt werden können.

Solange aber die Möglichkeit bestand, die Ausländer vor ein Standgericht zu stellen, war ihre Erschiessung ohne Richterspruch auf jeden Fall eine rechtswidrige Handlung. Das Drohen gefährlicher Unruhen, dem möglicherweise nur durch eine schnelle Sühne des Mordes an Lotze begegnet werden konnte, reicht unter den gegebenen Umständen nicht aus, um das Verhalten des Angeklagten Ha. zu rechtfertigen. Denn derselbe Erfolg konnte durch die Aburteilung der Ausländer durch ein Standgericht erreicht werden, also auf eine von der Rechtsordnung vorgesehene Weise. Die Rechtswidrigkeit der Tat des Angeklagten Ha. lässt sich demgegenüber nicht schon mit der Begründung ausschliessen, dass die Erschiessung der Ausländer einem von der Rechtsordnung gebilligten Zweck, nämlich der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung gedient habe. Diese Begründung übersieht, dass der Zweck nicht die Mittel heiligt. Ein berechtigter Zweck berechtigt 217 noch nicht die Rechtswidrigkeit der zu seiner Verwirklichung vorgenommenen Handlungen (Mezger, Lehrbuch des Strafrechts, 1931, §32, S.242; RGSt. 61/253).

Für die Frage der Rechtswidrigkeit ist es ohne Bedeutung, ob dem Angeklagten Ha. die Möglichkeit der Bildung eines Standgerichts bewusst gewesen ist. Bei der Entscheidung der Frage, ob ein übergesetzlicher Notstand vorliegt, kommt es allein auf die objektive Beurteilung der Lage durch das Gericht, nicht aber auf die Vorstellung des Täters an.

Nach alledem steht dem Angeklagten Ha. der Rechtfertigungsgrund des übergesetzlichen Notstandes nicht zur Seite.

 

Die Rechtswidrigkeit der Tat des Angeklagten Ha. wird aber auch nicht durch den sogenannten Katastrophenerlass ausgeschlossen. Da der Katastrophenerlass dem Schwurgericht nicht vorliegt, und auch nicht mehr ermittelt werden konnte, war zunächst die Frage zu prüfen, ob er überhaupt bestanden hat, und dann, welchen Inhalt er hatte. Beide Fragen sind durch die eidliche Aussage des Zeugen Fürst zu W. geklärt worden. Danach ist der nach dem Kriege sogenannte Katastrophenerlass im Jahre 1943 oder 1944 durch Himmler im Einvernehmen mit dem Reichsjustizminister schriftlich bekannt gegeben worden, ohne aber im Reichsgesetzblatt veröffentlicht zu werden. Der Erlass besagt, dass bei Fliegeralarm oder bei Verdunklung ergriffene Plünderer ohne gerichtliches Verfahren erschossen werden könnten, falls die Justizbehörden dann nicht arbeitsfähig seien. Ein zweiter Erlass, der zunächst nur für die besetzten Gebiete galt, wurde nach der Bekundung des Zeugen zu W. bei Kriegsende für den Fall des Übergreifens von Kampfhandlungen auf das Reichsgebiet ausgedehnt. Er unterschied sich von dem ersten Erlass dadurch, dass er weder Fliegeralarm noch Verdunklung voraussetzte.

An wen sich der Erlass richtete und wen er zur Anordnung der Hinrichtung von Plünderern für befugt erklärte, hat sich nicht klären lassen, Doch lässt sich ohne diese

 

217 Gemeint ist wohl: beseitigt.