Justiz und NS-Verbrechen Bd.VIII

Verfahren Nr.260 - 297 (1950 - 1951)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.293a LG Kassel 12.10.1951 JuNSV Bd.VIII S.745

 

Lfd.Nr.293a    LG Kassel    12.10.1951    JuNSV Bd.VIII S.754

 

Bei dieser Sachlage gewinnt die Aussage des Angeklagten Ha. auch nicht dadurch an Gewicht, dass die Zeugen S., K. und Ko. die Auffassung Ha.s, dass er den Erschiessungsbefehls von dem Angeklagten T. erhalten habe, bestätigen. Der Zeuge S. hat ohne Wissen des Angeklagten Ha. mit angehört, wie letzterer vor dem Zimmer des S. von dem zweiten Gespräch mit dem "Kommandeur" zu einer dritten, für ihn nicht wahrnehmbaren Person gesprochen hat. Der Zeuge Ko. bekundet, der Angeklagte Ha. habe ihm den Erschiessungsbefehl mit der Bemerkung weitergegeben, dass der "Kommandeur" die Erschiessung befohlen habe. Schliesslich bekundet der Zeuge K., der Angeklagte Ha. habe ihm am Morgen des 31.3.1945 erzählt, er habe den Kommandeur T. angerufen und von ihm den Erschiessungsbefehl erhalten. Ha. sei bei dieser Mitteilung noch ungehalten darüber gewesen, dass T. ihm auf seine Rückfrage in vorwurfsvollem Ton gesagt habe: "Da fragen Sie noch?"

Diese Aussagen, insbesondere die Bekundung des Zeugen S., lassen zwar darauf schliessen, dass der Angeklagte Ha. des guten Glaubens war, den Erschiessungsbefehl von dem Angeklagten T. erhalten zu haben. Gleichwohl haben diese Aussagen neben der des Angeklagten Ha. keine zusätzliche besondere Beweiskraft. Diese Zeugen geben nur wieder, was der Angeklagte Ha. auf Grund seiner möglicherweise irrtümlichen Auffassung über den Erteiler des Erschiessungsbefehls gesagt hat, ohne selbständige eigene Wahrnehmungen darüber zu enthalten, wer Ha. den Befehl zur Erschiessung der 5 Ausländer erteilt hat.

 

Da nach alledem der Angeklagte T. nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung der ihm zur Last gelegten Tat nicht hat überführt werden können, war er freizusprechen.

 

V.

 

Der Angeklagte Ha. hat durch die Weitergabe des Erschiessungsbefehls in mittelbarer Täterschaft 5 Menschen vorsätzlich getötet. Die besonderen Merkmale des §211 StGB sind nicht verwirklicht. Niedrige Beweggründe im Sinne von §211 Abs.2 StGB haben bei dem Angeklagten Ha. nicht vorgelegen. Er hat drei der Getöteten für Mörder gehalten und durfte sie nach den von dem Zeugen Ko. im Zusammenwirken mit Bä. und dem Zeugen He. getroffenen Feststellungen auch dafür halten. Im übrigen sah er alle 5 Ausländer auf Grund des von dem Zeugen Ko. gegebenen Berichtes als Plünderer an. Die Weitergabe des Erschiessungsbefehls durch den Angeklagten Ha. ist unter diesen Umständen nicht aus niedrigen Beweggründen erfolgt. Der Angeklagte Ha. hat deshalb nur den äusseren Tatbestand des Totschlags (§212 StGB) verwirklicht.

 

Nach der Überzeugung des Schwurgerichts hat der Angeklagte Ha. auch rechtswidrig gehandelt. Ihm steht ein Rechtfertigungsgrund nicht zur Seite. Insbesondere aus dem Gesichtspunkt des übergesetzlichen Notstandes lässt sich die Weitergabe des Erschiessungsbefehls durch Ha. nicht rechtfertigen. Dabei kann zu seinen Gunsten unterstellt werden, dass die Lage in Kassel vom 30. zum 31.3.1945 allein schon zur Abschreckung der 25000 Ausländer, die sich in Kassel aufhielten, eine rasche Bestrafung des Mordes an Lotze und der ganz erheblichen Plünderungen erforderte. Desgleichen ist nach den Feststellungen des Schwurgerichts zugunsten des Angeklagten Ha. davon auszugehen, dass die ordentliche Gerichtsbarkeit in Kassel zu bestehen aufgehört hatte, ein ordentliches Feldgericht in Kassel nicht vorhanden war, zivile Standgericht nicht gebildet und drei eingesetzte militärische Standgerichte auseinandergefallen waren, und dass keine Möglichkeit zur Unterbringung der Ausländer in einer Kasseler Haftanstalt bestand. Weiter kann zugunsten des Angeklagten Ha. unterstellt werden, dass keine Möglichkeit bestand, die festgenommenen Ausländer in einen weniger feindbedrohten Teil Deutschlands zurückzuführen und dort vor ein ordentliches Gericht zu stellen.

 

Alle diese Umstände rechtfertigen jedoch nicht die Weitergabe des Erschiessungsbefehls durch den Angeklagten Ha. Gerechtfertigt wäre sein Verhalten nach dem vom Reichsgericht in seiner Entscheidung vom 11.3.1927 (RGSt. 61/242) entwickelten Grundsatz der Güterabwägung nur, wenn ihm zugutezuhalten wäre, dass er wegen Fehlens eines anderen Ausweges durch Weitergabe des Erschiessungsbefehls - ob bewusst oder unbewusst - ein geringwertigeres Rechtsgut einem höherwertigen Rechtsgut geopfert hätte.