Justiz und NS-Verbrechen Bd.VIII

Verfahren Nr.260 - 297 (1950 - 1951)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

> zum Inhaltsverzeichnis

Lfd.Nr.293a LG Kassel 12.10.1951 JuNSV Bd.VIII S.745

 

Lfd.Nr.293a    LG Kassel    12.10.1951    JuNSV Bd.VIII S.750

 

erwiderte der Gesprächsteilnehmer des Angeklagten Ha.: "Das sind doch Mörder und Plünderer, die müssen doch erschossen werden. Warten Sie mal." Es entstand dann eine Pause von wenigen Minuten, worauf der Angeklagte Ha. von seinem Gesprächsteilnehmer den Befehl erhielt: "Also geben Sie Ko. den Befehl zum Erschiessen." Der Angeklagte Ha. fragte zurück, ob alle 5 Ausländer erschossen werden sollten. Darauf wurde ihm erwidert: "Da fragen Sie noch?"

 

Der Angeklagte Ha. hielt den Befehl für einen bindenden Befehl seines nach seiner Auffassung unmittelbaren Dienstvorgesetzten T. Er hielt den Befehl im Hinblick auf die strafbaren Handlungen, die die 5 festgenommenen Personen nach seiner Überzeugung begangen hatten, auch für rechtmässig. Ihm war aus laufenden Belehrungen der Polizeibeamten bekannt, dass gegen Plünderer rücksichtslos mit der Waffe vorgegangen werden sollte. Er kannte auch die an zahlreichen Stellen der Stadt angeschlagenen rot-gelben Plakate mit der Aufschrift: "Wer plündert, wird erschossen." Ausserdem hatte der Zeuge E. in der Nacht zum 30.3.1945 um 4 Uhr im Renthof gelegentlich einer Überprüfung der Einsatzbereitschaft zu den ihm unterstellten Polizeioffizieren gesprochen und bei dieser Gelegenheit scharfes und rücksichtsloses Vorgehen gegen Plünderer gefordert. Ende 1944 war dem Angeklagten Ha. der Sippenhaftungserlass Hitlers durch einen SS-Gerichtsoffizier dahingehend bekannt gemacht worden, dass jeder Offizier, der einen Befehl verweigere, mit dem Tode bestraft werden könne, und die Angehörigen eines solchermassen verurteilten Offiziers für die Vollstreckung hafteten, wenn man des Verurteilten nicht habhaft werde 214.

 

Als der Angeklagte Ha. den Erschiessungsbefehl erhielt, hatten die ordentlichen Gerichte Kassel auf Weisung des Reichsverteidigungskommissars bereits verlassen. Auch ordentliche Wehrmachtsgerichte waren nicht mehr in Kassel anwesend. Ebenso das SS- und Polizeigericht hatte Kassel spätestens bis zur Mitte der Karwoche verlassen. Zivile Standgerichte, die nach einem Anfang Februar 1945 im Reichsgesetzblatt veröffentlichten Erlass Hitlers eingerichtet werden sollten, waren nicht gebildet worden, weil sich niemand bereitgefunden hatte, Mitglied eines solchen Standgerichtes zu werden. Als die Amerikaner sich der Stadt näherten, wurde die Bildung solcher Standgerichte von den Justizbehörden nicht mehr erwogen. Ständige militärische Standgerichte waren bereits einige Zeit vor der Erklärung Kassels zur Festung auf dem üblichen Befehlswege gebildet worden, jedoch inzwischen abgebröckelt und am 30.3.1945 nicht mehr greifbar. Das Polizeigefängnis in Kassel konnte am 30.3.1945 keine Häftlinge mehr aufnehmen. Es war bereits Mitte der Karwoche geräumt worden. Auch die in den Haftanstalten Wehlheiden und Leipzigerstrasse Nr.11 einsitzenden Häftlinge waren im wesentlichen bereits am 28. und 29.3.1945 mit Zügen der Reichsbahn evakuiert worden.

Nachdem der Angeklagte Ha. den Erschiessungsbefehl erhalten hatte, liess er den Zeugen Ko. zu sich kommen. Er eröffnete Ko., der "Kommandeur" habe befohlen, dass die 5 Ausländer erschossen werden sollten. Unter "Kommandeur" verstand der Zeuge Ko. nach dem üblichen Sprachgebrauch den Angeklagten T. Ko. gab den Befehl an den Zeugen Hi. weiter. Dieser setzte sich mit J. und den drei männlichen Ausländern in Marsch. J. wusste zunächst nicht, was beabsichtigt war. Er glaubte, dass es zum Polizeipräsidium ginge. In der Nähe des Justizgebäudes liess sich Hi. von J. den Karabiner geben. Dann liess Hi. die Männer sich an die Wand stellen und schoss auch sogleich, wobei der erste Schuss sein Ziel verfehlte. Dies nützte einer der Ausländer aus, um in Richtung der Hessenkampfbahn zu flüchten. Hi. verfolgte ihn und schoss abermals. Er traf den Ausländer, der zusammenbrach. Sodann erschoss er die beiden anderen Ausländer, die inzwischen durch den Zeugen J. bewacht worden waren. Nach Rückkehr zum Renthof erstattete Hi. Meldung und erhielt von dem Zeugen Ko. den Befehl zur Erschiessung der beiden Frauen. Die beiden Frauen sind sodann von den Zeugen Hi. und J. angeführt worden und vor dem Justizpalast durch den Zeugen Hi. erschossen worden. Der Belgier unter den drei Ausländern war durch den Schuss Hi.s nur verwundet worden. Er konnte sich bis zum Marienkrankenhausbunker schleppen, wo er von dem Zeugen Dr. Ste. behandelt wurde. Er war nicht lebensgefährlich verletzt, erkrankte jedoch an einer durch die Schussverletzung ausgelösten Lungenentzündung, an der er 8 Tage später starb.

 

214 Die bis jetzt ermittelten Befehle, in denen Sippenhaft angedroht wurde, beschränken sich auf Fälle von Fahnenflucht, der Verübung von Landesverrat in Kriegsgefangenschaft und vorzeitiger Kapitulation; es handelt sich um die Befehle des Chefs des OKW vom 19.11.1944 und vom 5.2.1945 sowie um den, vom Chef des OKW i.A. unterzeichneten, Führerbefehl, der am 7.3.1945 vom Oberbefehlshaber des Ersatzheeres Himmler herausgegeben wurde. Diese Befehle sind im Hilsmittelteil des Registerbandes abgedruckt.