Justiz und NS-Verbrechen Bd.XXVI

Verfahren Nr.648 - 661 (1967)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.659a LG Köln 30.10.1967 JuNSV Bd.XXVI S.589

 

Lfd.Nr.659a    LG Köln    30.10.1967    JuNSV Bd.XXVI S.716

 

Es war dies die sogenannte "Häftlingseuthanasie", die unter der Bezeichnung "Aktion" oder "Sonderbehandlung 14 f 13" auch in anderen Konzentrationslagern durchgeführt wurde. Die Tötungen standen in Zusammenhang mit dem allgemeinen "Euthanasieprogramm" der nationalsozialistischen Führung. Es sind auch weitgehend die bereits für die allgemeine "Euthanasie" geschaffenen Organisationen und Tötungseinrichtungen verwendet worden. Diese Tötungen stehen am Ende einer Entwicklung, die mit der "amtlichen" Tötung eines missgestalteten Kindes begann und über die Vergasung Geisteskranker schliesslich dazu führte, nutzlose Esser in Konzentrationslagern zu beseitigen. Diese Entwicklung entsprach einer Geisteshaltung, die von führenden Nationalsozialisten schon frühzeitig dargelegt worden war.

 

Hitler hatte die Tötung geisteskranker Personen unter dem Leitgedanken, alles Schwache müsse "ausgeschaltet" werden, bereits in seinem Buch "Mein Kampf" mehrfach gefordert. Er ging davon aus, dass Humanität und Menschlichkeit gegenüber dem Schwächeren und Kranken, die Anerkennung der Menschenrechte insbesondere des Gleichheitssatzes gegenüber allen Menschen nur dazu führe, dass das "Minderwertige" sich immer mehr vermehre und schliesslich die Lebenskraft einer Nation zerstöre. Der Staat müsse deshalb ein dem angeblich in der Natur herrschenden Kampf ums Dasein entsprechendes Ausleseverfahren anwenden und alles, was irgendwie ersichtlich krank und erblich belastet sei, "ausschalten".

 

Diese Ideen wurden nach der nationalsozialistischen Machtübernahme verbreitet und es wurde Propaganda für sie gemacht. Eine Reihe von Gesetzen, die Rassegesetze, die 1933 und später erlassen wurden, dienten dem gleichen Zweck. In der Folgezeit konzentrierten sich die nationalsozialistischen Machthaber vor allem auf die Verwirklichung ihrer antisemitischen Programmpunkte, die einer ähnlichen Geisteshaltung entsprungen waren. Den Anlass zur Verwirklichung der allgemeinen "Euthanasie" gab die mit Genehmigung Hitlers erfolgte Tötung eines missgestalteten Kindes durch den damaligen Leiter der Kinderklinik in Leipzig, Professor Catel, im Jahre 1938. Der Wunsch nach der Tötung dieses Kindes war an Hitler herangetragen und in seiner Privatkanzlei, der "Kanzlei des Führers" bearbeitet worden. Hitler stimmte der Tötung des Kindes zu, die dann auch durchgeführt wurde, und zwar unabhängig von den nach wie vor bestehenden rechtlichen und gesetzlichen Tötungsverboten. Die nationalsozialistische Ideologie ging dahin, dass Hitler als Führer und damals auch oberster Gesetzgeber und Gerichtsherr sich an diese Verbote nicht zu halten brauchte. Deshalb wurde dieser Fall auch in seiner Privatkanzlei und nicht im Rahmen einer staats- und verwaltungsrechtlich zuständigen Behörde behandelt. Auf dieser Ausgangsbasis entwickelte sich das "Euthanasieprogramm", d.h., die in der Folgezeit vorgenommenen Tötungen leiteten sich allein aus dem Führerprinzip her und ruhten nicht auf einer gesetzlichen oder gesetzesähnlichen Grundlage. Im Gegenteil, es wurden in der Folgezeit viele Massnahmen getroffen, um die Tötungen vor Behörden und Einrichtungen, die auf gesetzlicher Grundlage arbeiteten, z.B. Standesämtern und Gesundheitsämtern, zu verheimlichen. Hitler, an den mehrfach der Wunsch herangetragen wurde, dem "Euthanasieprogramm" eine gesetzliche Grundlage zu geben, hat dies ausdrücklich abgelehnt.

 

Hitler nahm den Fall der Tötung jenes Kindes zum Anlass, die Tötung unheilbar Kranker, insbesondere zunächst unheilbarer kranker Kinder, in grösserem Rahmen vorbereiten zu lassen. Er ordnete an, dass künftig Tötungen dieser Art in alleiniger Zuständigkeit der "Kanzlei des Führers", also in seiner Privatkanzlei, als "Geheime Reichssachen" zu bearbeiten seien. Es wurde ein Gremium gebildet, welches die organisatorischen Einzelheiten des Plans zur Tötung geistig kranker Kinder vorbereitete. Für die zur Verwirklichung dieser Pläne erforderliche, noch zu errichtende Organisation wurde der Tarnname "Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden" gewählt. U.a. wurde ein Meldeverfahren zur Erfassung von Kindern mit angeborenen Leiden ausgearbeitet, ferner ein Gutachterverfahren. Die zur Tötung bestimmten Kinder wurden in sogenannte "Kinderfachabteilungen" einer Heil- und Pflegeanstalt verlegt oder eingeliefert.