Justiz und NS-Verbrechen Bd.I

Verfahren Nr.001 - 034 (1945 - 1947)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

 

Lfd.Nr.032b KG 17.05.1947 JuNSV Bd.I S.715

 

Lfd.Nr.032b    KG    17.05.1947    JuNSV Bd.I S.715

 

1 Ss 54/47

 

Im Namen des Volkes

 

 

In der Strafsache gegen

 

die Näherin Helene Schwärzel, wohnhaft in Berlin, seit dem 16.Januar 1946 in Untersuchungshaft, zur Zeit in der Untersuchungshaftanstalt beim Kriminalgericht in Berlin NW 40, Alt Moabit 12a, geboren am 16.Januar 1902 in Königsberg i. Pr.,

 

wegen Mordes und Verbrechens gegen die Menschlichkeit

 

hat der Strafsenat des Kammergerichts in Berlin in der Sitzung vom 17.Mai 1947 für Recht erkannt:

 

Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Schwurgerichts in Berlin vom 14.November 1946 nebst den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Schwurgericht zurückverwiesen.

 

 

GRÜNDE

 

Die Angeklagte hatte in Rauschen bei Königsberg, wo ihre Eltern seit 1916 wohnten, den damaligen zweiten Bürgermeister von Königsberg, Dr. Karl Goerdeler, von Ansehen kennen gelernt. Er bewohnte mit seiner und seines Bruders Familie in Rauschen eine Villa. Im Mai 1944 war die Angeklagte als Buchhalterin bei einer Dienststelle des Fliegerhorstes Elbing in Conradswalde in der Nähe von Elbing tätig. Nachdem am 1. und 8.August 1944 in den Zeitungen ein Steckbrief gegen Dr. Goerdeler wegen seiner Teilnahme an dem Anschlag auf Hitler vom 20.Juli 1944 erschienen war und die Angeklagte diesen gelesen hatte, kam sie mit ihrem Vorgesetzten, dem Oberzahlmeister Sch., darüber ins Gespräch, dass sie Goerdeler von Rauschen her kenne und ihn wiedererkennen würde. Als sie ihm auf seine Frage, wie lange es her sei, dass sie Goerdeler kennen gelernt habe, erwidert hatte: etwa 20 Jahre, bestritt ihr Sch. die Möglichkeit, Goerdeler nach so langer Zeit wiederzuerkennen. Am Morgen des 12.August 1944 erkannte die Angeklagte, als sie mit zwei Mitarbeiterinnen im Gastzimmer der Wirtschaft, in der ihre Dienststelle untergebracht war, beim Morgenkaffee sass, in einem an einem anderen Tisch frühstückenden Herrn den Dr. Goerdeler. Sie ging in das Büro zu einer Arbeitskameradin und sagte dieser, sie glaube, auf dem Sofa sitze Goerdeler. Die Arbeitskameradin reichte der Angeklagten einen Bleistift mit den Worten: "Schnell, schnell, schreiben Sie auf und dem Zahlmeister geben." Die Angeklagte nahm nun von einem Notizblock einen Zettel, schrieb darauf: "Auf dem Sofa sitzt der Goerdeler", und ging dann mit der Arbeitskameradin wieder in das Gastzimmer. Diese gab den Zettel dem Oberzahlmeister Sch. Er las ihn, drehte sich nach Goerdeler um und schüttelte dann den Kopf, um der Angeklagten zu erkennen zu geben, er bezweifele, dass der auf dem Sofa sitzende Herr wirklich Goerdeler sei. Hierauf trat die Angeklagte an ihn heran und erklärte ihm leise, "sie glaube doch, er sei es bestimmt". Nunmehr drehte sich Sch. nochmals nach dem Sofa um und sagte leise: "Eine Ähnlichkeit ist". Hierauf stand Goerdeler auf und entfernte sich. Nachdem er fortgegangen war, forderte Sch. die Angeklagte auf, die Polizei anzuläuten, mit den Worten: "Wenn Sie sicher sind, und die Zeitung hat ja geschrieben wer ihn erkennt, soll die Polizei anläuten." Die Angeklagte lehnte das aber ab und sagte: "Nein, das tue ich nicht". Dann sprachen die im Zimmer zurückgebliebenen Personen noch weiterhin darüber, ob der weggegangene Herr wirklich Goerdeler gewesen