Justiz und NS-Verbrechen Bd.I

Verfahren Nr.001 - 034 (1945 - 1947)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

 

Lfd.Nr.032a LG Berlin 01.11.1947 JuNSV Bd.I S.709

 

Lfd.Nr.032a    LG Berlin    01.11.1947    JuNSV Bd.I S.713

 

Angeklagten so stark entwickelt gewesen sei, dass ihre Zurechnungsfähigkeit ausgeschlossen oder erheblich vermindert gewesen wäre, haben die Sachverständigen mit Bestimmtheit verneint (§51 StGB).

 

Das Schwurgericht hat weiter die Frage geprüft, ob die Angeklagte, die insoweit allerdings selbst nichts vorgetragen hat, die Tat in einem ihre Schuld ausschliessenden Notstand begangen hat (§54 StGB). In dieser Hinsicht konnten aber keine Feststellungen getroffen werden. Die Angeklagte befand sich weder in einer Zwangslage, noch in einem Zustande gegenwärtiger Gefahr, als sie Sch. auf Dr. Goerdeler aufmerksam machte. Sie hätte schweigen dürfen, ohne sich selbst hierdurch in Gefahr zu bringen. Es war insbesondere nicht nötig, dass sie trotz der Zweifel der Beteiligten auf der Festnahme Dr. Goerdelers bestand. Die Angeklagte hatte vielmehr die Möglichkeit, ihre Erklärung, der Fremde sei Dr. Goerdeler, noch im letzten Augenblick, bevor Sch. und H. die Gastwirtschaft verliessen, durch den Hinweis auf die seit ihrer letzten Begegnung mit Dr. Goerdeler verflossene Zeit einzuschränken oder abzuschwächen und dadurch seine Ergreifung zu verhindern.

 

Die Angeklagte wollte, wie ihr beharrliches Festhalten an der einmal geäusserten Meinung und auch ihre Worte "Lassen Sie doch den Mann nicht laufen!" beweisen, die Entscheidung, ob Dr. Goerdeler verhaftet werden sollte, nicht ihren Vorgesetzten überlassen. Sie setzte sich damit für die Festnahme Dr. Goerdelers ein. Auf diese Weise gab sie zu erkennen, dass sie selbst diesen Erfolg erstrebte und die Tat als ihre eigene wollte. Für diese Feststellung sprechen ferner die Tatsachen, dass sie eine Berichtigung der schriftlichen Meldung an die Fliegerhorstkommandantur, in der sie ihrer Meinung nach in eine Nebenrolle gedrängt war, veranlasste, und der von der Angeklagten als Belohnung angenommene hohe Geldbetrag. Sie war infolgedessen nicht nur als Gehilfin der Zahlmeister H. und Sch. sondern als Täterin gemäss Artikel II 1c des Gesetzes Nr.10 des Kontrollrates vom 20.Dezember 1945 zu bestrafen.

 

Bei der Strafzumessung trug das Gericht der Persönlichkeit der Angeklagten Rechnung. Sie ist nach den übereinstimmenden Gutachten der Professoren Dr. M. und Dr. N. eine wenig ausgereifte hysterische Frau mit einem unausgeglichenen Gefühlsleben. Geringe Begabung, Mangel an Zielstrebigkeit auf der einen und ein gewisser Hang zum Starrsinn sowie Eitelkeit auf der anderen Seite kennzeichnen sie als eine Persönlichkeit kleinen geistigen Formats. Bosheit und Rachsucht liegen ihr fern. Sie hat die Tat nach dem persönlichen Eindruck, den das Schwurgericht von der Angeklagten in der Hauptverhandlung gewonnen hat, auch nicht aus Geldgier begangen. Sie wurde ihres Lohnes nicht froh, sondern hat unter den Folgen ihrer Tat, als Dr. Goerdeler im Polizeiauto abgeholt wurde, gelitten und bitterlich geweint. Am 14.August 1944 warf sie ein Nervenfieber auf ein mehrtägiges Krankenlager, und auch in Berlin kam die Angeklagte nicht zur Ruhe. Zu Gunsten der Angeklagten, die im übrigen als fleissig und hilfsbereit geschildert wird, war weiterhin zu berücksichtigen, dass sie sich alsbald zu ihrer Tat bekannte und ein umfassendes offenes Geständnis abgelegt hat.

 

Gleichwohl durfte die Strafe nicht milde sein. Denn es ist in hohem Masse verwerflich, dass die Angeklagte gerade den Mann, dem sie sich Jahrzehnte hindurch in Liebe und Verehrung verbunden fühlte, ohne Teilnahme gefühlskalt dem Henker preisgab. Aus diesem Grunde erkannte dass Gericht auf eine Zuchthausstrafe. Bei der Bemessung ihrer Höhe fiel entscheidend ins Gewicht, dass das Opfer ein Mensch war, dessen vorzeitiger Tod für unser Bemühen um eine vom Sittengesetz getragene Ordnung ein schmerzlicher Verlust bleiben wird.

 

Nach Abwägung aller dieser Umstände erschien eine Zuchthausstrafe von sechs Jahren angemessen und ausreichend. Indem die Angeklagte auf der Festnahme Dr. Goerdelers, den zu schonen sie auf Grund ihrer persönlichen Beziehungen zu ihm, allen Grund gehabt hätte, eigenwillig bestand, handelte sie auch ehrlos. Aus diesem Grunde hat ihr das Schwurgericht die bürgerlichen Ehrenrechte auf die im Verhältnis zu der erkannten Freiheitsstrafe angebracht erscheinende Dauer von sechs Jahren aberkannt (§32 StGB).