Justiz und NS-Verbrechen Bd.I

Verfahren Nr.001 - 034 (1945 - 1947)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

 

Lfd.Nr.032a LG Berlin 01.11.1947 JuNSV Bd.I S.709

 

Lfd.Nr.032a    LG Berlin    01.11.1947    JuNSV Bd.I S.712

 

vom 9.August 1944 gelesen und war sich, wie sie glaubhaft eingesteht, auch über die Folgen einer Festnahme Dr. Goerdelers bereits in dem Zeitpunkt im klaren, als sie mit dem Zeugen Sch. in der Gaststube sprach. Die Angeklagte hatte ferner keinen Zweifel daran, dass sie mit der Preisgabe ihres Wissens die Möglichkeit für ein Verfahren gegen Dr. Goerdeler schuf. Sie verfolgte daher Dr. Goerdeler, indem sie den Zettel schrieb, die Zweifel der Zeugen Sch. und H. ausräumte und diesen schliesslich erklärte: "Lassen Sie doch den Mann nicht laufen!" Diese Verfolgung war objektiv und subjektiv unmenschlich.

 

Die Art und Weise, in der Strafverfahren gegen politisch Verfolgte häufig durchgeführt zu werden pflegten, insbesondere aber die Strafverfolgung Dr. Goerdelers, widersprach den Grundsätzen der Menschlichkeit. Durch die Handlungsweise der Angeklagten wurde Dr. Goerdeler diesem unmenschlichen Verfahren überantwortet. Sie hat zwar die Aufforderung des Sch., den Landjäger anzurufen, abgelehnt. Indem die Angeklagte aber den Zeugen Sch. auf Dr. Goerdeler aufmerksam machte und dabei verharrte, dass sie den Fremden bestimmt erkannt habe, hat sie die Zweifel ihrer Vorgesetzten beseitigt und so deren Entschluss herbeigeführt, Dr. Goerdeler zu folgen und ihn festzunehmen. Durch ihr Verhalten setzte die Angeklagte somit eine ursächliche Bedingung zur Ergreifung Dr. Goerdelers und zu dem sich daran anschliessenden unmenschlichen Strafverfahren wegen Hochverrats.

 

Für die Frage, ob die Angeklagte auch subjektiv unmenschlich gehandelt hat, ist es von entscheidender Bedeutung, ob die Angeklagte aus politischen Gründen gehandelt hat. Auch diese Frage war zu bejahen. Die Angeklagte hat die Tat zwar nicht aus nationalsozialistischem Fanatismus oder aus persönlichem Hass begangen. Rechthaberei und Geltungsbedürfnis mögen die Beweggründe gewesen sein. Auch derjenige aber ist wegen unmenschlicher Verfolgung aus politischen Gründen zu bestrafen, welcher, ohne dass er ideologisch einem politischen System nahezustehen braucht, in einer Zeit politischer Hochspannung aus scheinbar unpolitischen Beweggründen eine Handlung vornimmt, die ausschliesslich politischen Zwecken dient. Wenn die Angeklagte daher, obwohl ihr, wie sie nicht in Abrede stellt, die Gewalt- und Unterdrückungsmethoden des nationalsozialistischen Systems bekannt waren, den Dr. Goerdeler wegen einer gegen das Regime gerichteten Handlung den Organen dieses Systems in die Hände lieferte, bekannte sie sich zu dem Gewaltregime sowie seinen Methoden. Sie handelte daher, insbesondere unter Berücksichtigung der politischen Lage nach dem missglückten Attentat und den sich daraus ergebenden politischen Verhältnissen, aus politischen Gründen und damit auch subjektiv unmenschlich.

 

Dass die Angeklagte zwischen einer Pflicht zur Menschlichkeit und der Verpflichtung zur Anzeige geschwankt habe, und dass hierdurch die Rechtswidrigkeit ihrer Tat ausgeschlossen gewesen sei, hat die Angeklagte selbst nicht behauptet. Sie könnte sich darauf auch nicht berufen, weil gemäss Artikel II 4b des Kontrollratsgesetzes Nr.10 die Tatsache, dass jemand auf Befehl seiner Regierung gehandelt habe, die Rechtswidrigkeit nicht ausschliesst.

 

Die Angeklagte hat auch bewusst und gewollt, also vorsätzlich gehandelt. Sie ist erst geraume Zeit, nachdem ihr Dr. Goerdeler aufgefallen war, ins Büro gegangen, um dort den Zettel zu schreiben, mit dem sie den Zeugen Sch. verständigte. Sie ist ferner trotz der Bedenken des Sch. und aller anderen Beteiligten beharrlich dabei verblieben, dass der Fremde Dr. Goerdeler sei. Wenn sie weiterhin Sch. die Worte zurief, "Lassen Sie doch den Mann nicht laufen!", obwohl ihr in diesem Zeitpunkt, wie sie in der Hauptverhandlung ausdrücklich eingestanden hat, das Unrecht ihres Verhaltens deutlich bewusst war, so handelte sie planvoll, folgerichtig und überlegt. Sie war sich daher gefühls- und verstandesmässig darüber klar, dass sie Dr. Goerdeler mit der Preisgabe ihres Wissens der Verfolgung durch die Behörden auslieferte. Dem steht nicht entgegen, dass die Angeklagte die Tat, wie die Sachverständigen Professor Dr. M. und Frau Professor Dr. N. in ihren eingehend begründeten Gutachten überzeugend dargelegt haben, aus einem auf hysterischer Grundlage beruhenden Geltungsbedürfnis und aus Rechthaberei begangen hat. Denn dass diese Wesensart der