Justiz und NS-Verbrechen Bd.I

Verfahren Nr.001 - 034 (1945 - 1947)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

 

Lfd.Nr.032a LG Berlin 01.11.1947 JuNSV Bd.I S.709

 

Lfd.Nr.032a    LG Berlin    01.11.1947    JuNSV Bd.I S.710

 

verbreiteten militärischen und politischen Geschehnisse, insbesondere auch die Ereignisse des 20.Juli 1944, wiederholt erörtert.

 

Am 1.August 1944 erschien in den Zeitungen ein Steckbrief gegen Dr. Goerdeler wegen Teilnahme an dem Anschlag auf Hitler, und in der Tagespresse vom 9.August 1944 wurde der Steckbrief erneut veröffentlicht. Die Zeitungen brachten Bilder von Dr. Goerdeler und gleichzeitig die Nachricht, dass auf seine Ergreifung eine Belohnung von einer Million Reichsmark ausgesetzt sei. Diese Anzeigen vom 9.August las auch die Angeklagte. Sie erkannte Dr. Goerdeler auf den Bildern wieder und sprach darüber mit dem Oberzahlmeister Sch., der früher ebenfalls in Königsberg gearbeitet und Dr. Goerdeler letztmalig ums Jahr 1922 gesehen hatte. Im Laufe dieses Gespräches wurde zwischen der Angeklagten und Sch. auch darüber besprochen, ob es überhaupt möglich sei, Dr. Goerdeler nach so vielen Jahren wiederzuerkennen. Sch. bestritt diese Möglichkeit. Die Angeklagte blieb jedoch dabei, sie würde Dr. Goerdeler wiedererkennen. Sie sammelte in den nächsten Tagen Dr. Goerdeler betreffende Zeitungsnotizen und seine in der Presse veröffentlichten Bilder.

 

Am Morgen des 12.August 1944 betrat die Angeklagte mit mehreren anderen Angestellten der Lohnstelle des Fliegerhorstes den gemeinsamen Speiseraum, um hier ihr Frühstück einzunehmen. Dabei bemerkte sie auf einem Sofa in der Ecke dieses Raumes einen Fremden, in welchem sie Dr. Goerdeler zu erkennen glaubte. Sie verwarf diesen Gedanken jedoch, indem sie sich sagte, Dr. Goerdeler, den sie nach den Zeitungsberichten in Leipzig vermutete, werde sich schwerlich in Ostpreussen aufhalten. Die Angeklagte nahm darauf an ihrem Tisch Platz und begann mit dem Frühstück. Nach etwa einer Viertelstunde betraten auch die beiden Oberzahlmeister Sch. und H. den Speiseraum und setzten sich an einen anderen Tisch. Wieder fiel der Fremde auf dem Sofa der Angeklagten auf. Er schien übermüdet und hatte die Hand vor das Gesicht gelegt. Als aber sein durch die gespreizten Finger fallender Blick die Angeklagte traf, gab es für diese keinen Zweifel mehr darüber, das der Fremde Dr. Goerdeler sei. Sie stand auf, ging in das neben dem Speiseraum gelegene Büro, um sich hier Papier und Bleistift geben zu lassen und durch einen Zettel den Oberzahlmeister Sch. zu verständigen. Im Büro war die Angestellte B. Ihr erklärte die Angeklagte, dass im Speiseraum ein Mann sitze, der Dr. Goerdeler sein müsse. Während dieses Gesprächs, dessen Einzelheiten nicht mehr festgestellt werden konnten, schrieb die Angeklagte einen Zettel mit dem Inhalt: "Auf dem Sofa sitzt Dr. Goerdeler". Beide, die Angeklagte und die Angestellte B., begaben sich alsdann in den Speiseraum. Helene Schwärzel nahm an ihrem Tisch Platz, während Fräulein B. zum Oberzahlmeister Sch. ging und ihm den Zettel vorlegte. Sch. las ihn, drehte sich zu dem Fremden um, konnte keine Ähnlichkeit feststellen und schüttelte, indem er sich zur Angeklagten wandte, die er an der Schrift als Verfasserin erkannte, den Kopf. Darauf stand die Angeklagte auf, begab sich zu Sch. und versicherte diesem flüsternd: "Ich glaube bestimmt, er ist". Sch. erwiderte ebenfalls leise: "Eine Ähnlichkeit ist", veranlasste aber nichts, und die Angeklagte setzte sich wieder an ihren Tisch. Nun gab der Oberzahlmeister H., der von den Vorgängen zwischen Sch. und der Angeklagten keine Kenntnis gewonnen hatte, einer Angestellten den Auftrag, eine Dienststelle in Marienburg wegen einer ausgebliebenen Lieferung anzurufen. In diesem Augenblick stand der Fremde auf, nahm Hut und Mantel und verliess die Gaststube. Als er fortgegangen war, entspann sich unter den zurückgebliebenen Personen - es waren 15 Angehörige der Lohnstelle anwesend - eine erregte Debatte. Die Angeklagte erklärte, der Fremde sei bestimmt Dr. Goerdeler gewesen, und sie blieb bei ihrer Ansicht, obgleich alle anderen übereinstimmend erklärten, die Gesichtszüge des Fremden stimmten mit dem in den Zeitungen veröffentlichten Bild Dr. Goerdelers nicht überein. Schliesslich äusserte Sch., wenn die Angeklagte ihrer Sache so sicher sei, dann möge sie den Landjäger anrufen. Das aber lehnte die Angeklagte ab. Nachdem inzwischen Zeitungen mit Bildern Dr. Goerdelers herbei geholt worden waren, Sch. sich aber immer noch nicht überzeugt hatte, erklärte die Angeklagte, "Lassen Sie doch den Mann nicht laufen!" Nunmehr, ungefähr 5 Minuten, nachdem der Fremde den Raum verlassen hatte, entschloss sich der Oberzahlmeister H., nach dem Fremden zu forschen. Er ging auf die Strasse, konnte jedoch niemanden sehen, kehrte