Justiz und NS-Verbrechen Bd.XXXI

Verfahren Nr.694 - 701 (1968 - 1969)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.701a LG Stuttgart 13.03.1969 JuNSV Bd.XXXI S.697

 

Lfd.Nr.701a    LG Stuttgart    13.03.1969    JuNSV Bd.XXXI S.698

 

GRÜNDE410

 

I. Grundlagen und Allgemeines zur Aktion 1005

 

A) Hintergrund und Vorgeschichte der Aktion 1005

 

Von Anfang an war der Antisemitismus eine der wesentlichsten Grundlagen des Nationalsozialismus. Ideologisch wurden dabei in völlig unwissenschaftlicher, wahnhafter Weise die Juden gleichsam als "minderwertige Gegenrasse" zur "arischen Rasse" dargestellt. Da es galt, die dem deutschen Volk als der auserkorenen "Herrenrasse" vermeintlich zukommende absolute Macht- und Vorrangstellung in der Welt zu schaffen, war das Judentum, dessen angebliches Ziel die Zersetzung und Vernichtung alles Arischen war, der erklärte Feind der nationalsozialistischen Politik. Nach der Machtübernahme durch Hitler am 30.1.1933 schlug sich dies in den folgenden Jahren in einer Vielzahl von willkürlichen gesetzgeberischen, verwaltungsmässigen und propagandistischen Massnahmen gegen die Juden in Deutschland nieder, deren auch nach aussen weithin erkennbarer vorläufiger Höhepunkt die bekannten Ereignisse der sogenannten "Reichskristallnacht" vom 8./9.November 1938 und die an jene staatlich gelenkte Terroraktion angeknüpfte diabolische Schadens- und "Sühne"-Regelung waren. Durch die weitestgehende Entrechtung und öffentlich in Form systematischer Hetze betriebene Entwürdigung der deutschen Juden sowie durch drastische wirtschaftliche Eingriffe wollte die nationalsozialistische Führung neben der vollständigen Ausschaltung jedes jüdischen Einflusses in Deutschland bis zum Ausbruch des II.Weltkrieges die Juden vor allem aus dem Reichsgebiet vertreiben und sie zur (damals noch planmässig geförderten) Auswanderung veranlassen.

 

Nach Kriegsbeginn radikalisierten die Machthaber des Dritten Reiches ihr schon bis dahin beispielloses Vorgehen gegen die ihrem Herrschaftsbereich unterworfenen jüdischen Menschen. Unter anderem erhielt Himmler als Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei von Hitler die Vollmacht zur sogenannten "Sonderbehandlung", d.h. zur Liquidierung von Menschen ohne ein vorheriges Urteil. Waren in den ersten Jahren des Regimes Misshandlungen, KZ-Inhaftierungen und widerrechtliche Tötungen von Juden noch mehr oder weniger Nebenerscheinungen der nationalsozialistischen Willkürherrschaft, so nahm nunmehr die sogenannte "Endlösung der Judenfrage", d.h. die planmässige Ausrottung der in Europa unter die Gewalt des NS-Staates fallenden jüdischen Bevölkerung, konkrete Gestalt an. Andere für die Ausführenden leichter zu ertragende und technisch einfachere Vorschläge, wie z.b. die Ansiedlung der europäischen Juden auf der Insel Madagaskar, wurden zwar auch erörtert, aber nie ernsthaft in Angriff genommen. Ab wann sich die massgebenden Urheber, Hitler, Göring, Himmler und Heydrich für die biologische Vernichtung der Juden als praktikablem Plan der "Endlösung" entschieden, ist allerdings nicht genau bekannt. Jedoch kann aus verschiedenen geschichtskundigen Vorgängen (z.B. Reichstagsrede Hitlers vom 30.1.1939, Schnellbrief Heydrichs "zur Judenfrage im besetzten Gebiet" vom 21.9.1939, Befehl des Generalfeldmarschalls von Brauchitsch vom 28.4.1941, der den Einsatzgruppen "für den Einsatzfall" freie Hand gab) mit Sicherheit entnommen werden, dass die Massenvernichtung des europäischen Judentums bei den nationalsozialistischen Machthabern schon geraume Zeit vor dem Einmarsch der deutschen Truppen nach Russland am 22.6.1941 beschlossene Sache war. Dafür legen zwei verwaltungstechnische Massnahmen auf höchster Ebene, nämlich ein Schreiben Görings an Heydrich vom 31.7.1941, mit dem der damalige Reichsmarschall den Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes beauftragte, "alle erforderlichen Vorbereitungen in organisatorischer ... Hinsicht zu treffen für eine Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflussgebiet in Europa", und die

 

410 In der Urteilsurschrift fehlende Übersichten sind der dem Urteil beiliegenden "Gliederung der Urteilsgründe" entnommen worden.