Justiz und NS-Verbrechen Bd.XXXI

Verfahren Nr.694 - 701 (1968 - 1969)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.700 LG Dortmund 16.01.1969 JuNSV Bd.XXXI S.675

 

Lfd.Nr.700    LG Dortmund    16.01.1969    JuNSV Bd.XXXI S.686

 

volle Ausmass der mit der Aktion verbundenen Unannehmlichkeiten noch nicht bewusst gewesen sein konnte, und da er sich während der Entladung des Gaswagens und der Bestattung der Leichen in einer beträchtlichen Entfernung von diesem Geschehen hat aufhalten können, ist das Versetzungsgesuch zur Überzeugung des Schwurgerichts in erster Linie deshalb von dem Angeklagten eingereicht worden, weil ihm das Unrechte seines Verhaltens bewusst gewesen ist. Dies hat der Angeklagte auch in seiner eigenen Einlassung schliesslich durchblicken lassen.

 

Ein letztes Indiz für das Unrechtsbewusstsein des Angeklagten ist der Umstand, dass dieser sich nach dem Kriege bis zum Jahre 1958 unter falschem Namen im Ausland aufgehalten hat. Offenbar war dem Angeklagten in dieser Zeit bewusst, dass er mit seinem Tätigwerden die Tötungshandlung an den Juden des Lagers Semlin gefördert und sich dadurch strafbar gemacht hat. Ein anderer plausibler, für den langen Aufenthalt in Venezuela sprechender Grund ist nicht ersichtlich und von dem Angeklagten nicht genannt worden. Wenn dem Angeklagten dies aber in der Zeit nach dem Kriege bewusst gewesen ist, liegt der weitere Schluss nahe, dass dies auch schon zur Tatzeit der Fall war. Bei verständiger Würdigung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Gesichtspunkte musste das Gericht zur Überzeugung kommen, dass der Angeklagte das Unrechte seines Tuns erkannt und die Tötungshandlung vorsätzlich gefördert hat.

 

5.)

Das Schwurgericht ist jedoch zu der Überzeugung gelangt, dass der Angeklagte zur Tatzeit der Auffassung gewesen ist, er müsse dem ihm erteilten Befehl Folge leisten, obwohl er dessen verbrecherischen Zweck erkannt hatte. Auf Grund der nicht zu widerlegenden Einlassung des Angeklagten war zu berücksichtigen, dass er zur Tatzeit aus einer falsch verstandenen Gehorsams- oder Treuepflicht auch solche Befehle für bindend gehalten hat, die ihm die Begehung strafbarer Handlungen angesonnen haben. Bei der Beurteilung dieser Frage war von der zur Tatzeit bestehenden Situation des Angeklagten auszugehen. Zu berücksichtigen war insbesondere, dass der Angeklagte bereits zu einem frühen Zeitpunkt in die SS eingetreten und seit 1938 dort eine Ausbildung zum bedingungslosen Gehorsam erfahren hat. Gerade innerhalb der SS war der Propagandadruck des Nationalsozialismus besonders stark. SS-Offiziere wurden zu einem beispiellosen Korpsgeist erzogen und zu willfährigen Instrumenten der nationalsozialistischen Machthaber ausgebildet. Besonders für den SS-Offizier galt das Prinzip blinden Gehorsams gegenüber den von oben erteilten Befehlen.

 

VII. Die rechtliche Würdigung des Tatgeschehens

 

1.)

Die Vergasung der Juden des Lagers Semlin stellte einen Teil der Ausführung des von Hitler, Göring, Himmler, Heydrich und anderen gefassten Planes zur Ausrottung der jüdischen Bevölkerung in ihrem Machtbereich dar. Diese nationalsozialistischen Machthaber sind daher als Haupttäter anzusehen. Die Tötung der Juden war auch rechtswidrig, obwohl sie letztlich auf einen Befehl Hitlers zurückging. Obrigkeitliche Anordnungen, die jede allgemeine Rechtsüberzeugung missachten, schaffen kein Recht (BGHSt. Bd.2, S.238, ff.; 5, 230 ff.).

 

Die vorsätzliche und rechtswidrige Tötung der Juden erfüllte den Tatbestand des Mordes gemäss §211 StGB. Die Haupttäter haben ihren Plan zur Ausrottung der Juden durch gefügige Werkzeuge ausführen lassen, weil sie aus dem Rassenwahn der nationalsozialistischen Weltanschauung allen Juden ein Recht zum Leben schlechthin absprachen. Darin ist eine so erhebliche Missachtung der menschlichen Persönlichkeit und eine derartige, jedem menschlichen Empfinden Hohn sprechende Gesinnung zu sehen, dass sie als niedriger Beweggrund im Sinne des §211 StGB zu bezeichnen ist. Die jüdischen Opfer wurden durch