Justiz und NS-Verbrechen Bd.XXXIV

Verfahren Nr.732 - 746 (1970 - 1971)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.740 LG Frankfurt/M. 08.10.1970 JuNSV Bd.XXXIV S.645

 

Lfd.Nr.740    LG Frankfurt/M.    08.10.1970    JuNSV Bd.XXXIV S.659

 

Weigerungssituation von dem brutalen Kommandanten Kramer in der geschilderten Weise behandelt und bedroht wurde, so ist es bei seiner Persönlichkeit durchaus wahrscheinlich, dass er nunmehr in eine Art innere Panik geriet und sich unmittelbar an Leib und Leben bedroht fühlte. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass der Angeklagte hinsichtlich der Furcht, in die "Bewährungseinheit" zurückversetzt und dort "verheizt" zu werden, von falschen Voraussetzungen ausging. Einerseits hat er damals die Versetzung zu der Fallschirmjägereinheit offenbar als eine Art Strafversetzung empfunden und unter diesem Eindruck und bei dem ungewohnten Dienst mit Sprungausbildung sowie durchaus möglicher Gespräche oder Gerüchte in dieser Richtung tatsächlich geglaubt, mit der Einheit "verheizt" zu werden und sich in einer der berüchtigten Bewährungseinheiten zu befinden, zumal die Einheit weitgehend aus Bewährungsschützen bestand. Andererseits erscheint es durchaus naheliegend, dass der Angeklagte seine ihn damals in Auschwitz überfallende Angst mangels anderer konkreter Möglichkeiten sofort mit dem bei ihm negativ bestimmten Bild von der Fallschirmjäger-Einheit und ihrem Verwendungszweck in Verbindung brachte. An der "Bewährungseinheit" konkretisierte sich offenbar lediglich seine Furcht vor Beseitigungsmassnahmen, die seiner Ansicht nach gegen ihn ergriffen werden konnten. Die angedrohte Gefahr und was er damit verband, konnte der Angeklagte in der Situation auf der Rampe, insbesondere auf Grund der brutalen Art von Kramer, der sich in nächster Nähe befand, somit jeweils als unmittelbar bevorstehend empfinden.

 

Für den Angeklagten war die Gefahr auch nicht zumutbar auf andere Weise abwendbar. Er hat sich von Anbeginn gegen das Selektieren gesträubt und ist aktiv geworden, um sich Rat zu holen und vom Dienst auf der Rampe verschont zu werden. Er hat sich im Urlaub an einen höheren Richter und einen Geistlichen gewandt und um Verhaltensmassregeln gebeten, doch keine Hilfe bekommen. Er hat sich - wie auf Grund der Aussage des Zeugen Dr. Ba. feststeht - an seinen früheren Vorgesetzten mit der Bitte um Rat gewandt, doch konnte er von diesem nur allgemeine Redensarten hören. Als er schliesslich tatsächlich - wenn auch zunächst nur zur "Einführung" - mit Dr. Wirths zum Selektieren auf die Rampe musste, schützte er Unwohlsein und Krankheit vor und erklärte Dr. Wirths auch seine ablehnende Einstellung. Sein Verhalten schien Erfolg gehabt zu haben, da er zunächst nicht mehr mit zur Rampe musste und nicht zum Dienst auf der Rampe eingeteilt wurde. Es kann ihm deshalb nicht nachteilig angerechnet werden, dass er dann nichts mehr unternahm, um überhaupt von Auschwitz wegzukommen und damit dem Rampendienst zu entgehen.

 

Wenn der Angeklagte angibt, dass er dann, als er im Frühsommer 1944 zum Rampendienst eingeteilt worden war, zunächst in sieben bis acht Fällen Vertreter gesucht und gefunden habe, so erscheint dieses - nicht nachweisbare - Verhalten des Angeklagten nach seinen früheren Versuchen, dem Rampendienst zu entgehen, durchaus möglich. Der Angeklagte hat von solchen geworbenen Vertretern bereits in allen früheren schriftlichen und richterlichen Aussagen gesprochen, obwohl er auch insoweit jede Beziehung zu Selektionen hätte verschweigen oder ableugnen können. Schliesslich entspricht ein solches Verhalten auch der Persönlichkeit des Angeklagten, der die Dinge immer wieder an sich herankommen lässt und erst dann, wenn es gar nicht mehr anders geht, zu handeln beginnt, sich dann aber beharrlich wenigstens um eine Notlösung bemüht. Die Tatsache, dass der Angeklagte sich nicht energisch bei Dr. Wirths gegen seine Einteilung zum "Rampendienst" aussprach und auf Telefonanrufe hin diesen "Rampendienst" aufnahm, hat der Angeklagte mit der beherrschenden Art von Dr. Wirths zu erklären versucht. Sie kann damit nach den getroffenen Feststellungen tatsächlich zusammenhängen, da Dr. Wirths von mehreren Zeugen als ein Mann geschildert worden ist, der nach aussen "sehr forsch" wirkte (Zeuge Dr. Mün.), der "zwei Gesichter" hatte (Zeuge Dr. Fej.), der "äusserlich verbindlich" war, jedoch "keinen Widerspruch duldete" und dann "brutal" wurde (Zeuge Ju.). Es ist möglich, dass Dr. Wirths dem Angeklagten gegenüber schliesslich einen scharfen und herrschenden Ton anschlug, zumal unter Berücksichtigung dessen, dass Dr. Wirths dem Angeklagten gegenüber stets "Nachsicht" geübt hatte und nun beim Eintreffen der Massentransporte keinen Arzt mehr entbehren konnte und