Justiz und NS-Verbrechen Bd.XXXIV

Verfahren Nr.732 - 746 (1970 - 1971)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.740 LG Frankfurt/M. 08.10.1970 JuNSV Bd.XXXIV S.645

 

Lfd.Nr.740    LG Frankfurt/M.    08.10.1970    JuNSV Bd.XXXIV S.657

 

V. « Freisprechung des Angeklagten »

 

Der Angeklagte musste nach dem festgestellten Sachverhalt im Zusammenhang mit seiner Einlassung und den Ergebnissen der Beweisaufnahme freigesprochen werden, da ihm in strafrechtlicher Hinsicht aus seinem damaligen Verhalten, das objektiv einen Straftatbestand erfüllt, kein Schuldvorwurf gemacht werden kann.

 

Durch die bewusste Beteiligung an den Selektionen in vier Fällen hat der Angeklagte objektiv mehrfach den Tatbestand der Beihilfe zum Mord, begangen an einer unbestimmten Vielzahl von Menschen, erfüllt (§§211, 43, 73, 74 StGB).

 

Die Selektionen waren notwendiger und genau eingeplanter Teil der Vernichtungsaktionen. Ihre Durchführung war regelmässig unmittelbare Voraussetzung für die anschliessende Vergasung von jeweils über die Hälfte der selektierten Häftlinge. Die Teilnahme an diesem Selektionsvorgang, dessen Konsequenz der Angeklagte ebenso wie die sonstigen daran beteiligten Ärzte, Apotheker und SS-Leute, kannte, war Teilnahme an der Massenvernichtung, und zwar an einer der dabei nach dem geplanten Gesamtablauf notwendigen Stellen des zu einer Maschinerie entwickelten und vom Befehl der Herrschenden bis zum Einwerfen des Giftes in die Vergasungsräume reichenden Vernichtungsgeschehens. Wer - wie der Angeklagte - an diesem Geschehen mit dem Bewusstsein und der Kenntnis seiner Funktion im Zusammenhang des Geschehensablaufs und des angestrebten Zieles teilnahm, nahm an dem Vernichtungsvorgang teil und damit an der Tötung einer Vielzahl von Menschen.

 

Die Tötung der Menschen in den Gaskammern in Auschwitz war Mord im Sinne des §211 StGB, da diese Tötung - wie der Angeklagte wusste - aus Rassenhass und zur Ausschaltung politisch missliebiger Personen, damit aus niedrigen Beweggründen erfolgte und nach der Art der Ausführung gegenüber arg- und wehrlosen Menschen auch heimtückisch und grausam geschah. Irgendeine auch nur formal zutreffende Rechtsgrundlage für diese Tötungen gab es nicht.

 

Der Angeklagte wirkte zwar an der Vernichtung von Menschen in Auschwitz dadurch mit, dass er sich an Selektionen beteiligte, billigte die Vernichtung und das Töten von Häftlingen aber nicht, sondern brachte im Gegenteil zum Ausdruck, dass er diesen Vorgängen ablehnend gegenüberstand. Soweit er deshalb an der Vernichtung von Menschen beteiligt war, handelte er nicht mit Täter-, sondern nur mit Gehilfenwillen, leistete also objektiv Beihilfe zum Mord (§§211, 49 StGB).

 

Aus seinem damaligen Verhalten kann dem Angeklagten jedoch kein Schuldvorwurf im strafrechtlichen Sinne gemacht werden, da nicht nur nicht ausgeschlossen werden kann, dass er im sogenannten Putativnotstand nach §52 StGB gehandelt hat, sondern eine Reihe von Umständen dafür spricht, dass der Angeklagte tatsächlich im Putativnotstand gehandelt haben kann, also unter dem Eindruck einer objektiv nicht bestehenden, subjektiv aber - schuldlos - als gegeben empfundenen Zwangslage im Sinne des §52 StGB gehandelt haben kann und somit gemäss §52 StGB "eine strafbare Handlung nicht vorhanden" ist. Voraussetzung für die Anerkennung eines sogenannten Nötigungsnotstandes ist, dass "der Täter durch unwiderstehliche Gewalt oder durch eine Drohung, welche mit einer gegenwärtigen, auf andere Weise nicht abwendbaren Gefahr für Leib oder Leben seiner selbst oder eines Angehörigen verbunden war, zu der Handlung genötigt worden ist" (§52 Abs.1 StGB).

 

An den vier Selektionen, an denen der Angeklagte beteiligt war, hat er nach seinen Angaben nur teilgenommen, weil er sich an Leib und Leben ernsthaft bedroht fühlte und sich auf Grund dieser Drohungen und seiner Befürchtungen dann zur Teilnahme an den Selektionen veranlasst sah. Als unmittelbare Drohung kommen die Äusserungen des ehemaligen Lagerkommandanten Kramer und dessen dabei gezeigtes Verhalten in Betracht, da der Angeklagte