Justiz und NS-Verbrechen Bd.XXXIV

Verfahren Nr.732 - 746 (1970 - 1971)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.740 LG Frankfurt/M. 08.10.1970 JuNSV Bd.XXXIV S.645

 

Lfd.Nr.740    LG Frankfurt/M.    08.10.1970    JuNSV Bd.XXXIV S.655

 

Angeklagten Mulka hinsichtlich der Selektion von ankommenden Transporten und der massenweise Vergasung von Häftlingen (3.Abschnitt A II S.95-101 246) getroffen worden sind und insoweit mit den allgemein bekannten historischen Erkenntnissen übereinstimmen.

 

IV. « Einlassung des Angeklagten »

 

Der Angeklagte hat sich zum Schuldvorwurf folgendermassen erklärt:

 

Als er nach dem Einsetzen der Massentransporte im Frühsommer 1944 wieder zum Rampendienst aufgefordert und eingeteilt worden sei, sei es ihm zunächst in sieben bis acht Fällen gelungen, andere Lagerärzte als Vertreter zu finden, indem er ihnen gegenüber Unwohlsein, mangelnde Zeit oder dringende Arbeiten vorgeschützt habe. Diese Ärzte hätten dann die Selektionen durchgeführt. Um sicherzustellen, dass dem Standortarzt Dr. Wirths diese Handhabung nicht bekannt wurde, sei er - der Angeklagte - jedoch in allen diesen Fällen jeweils noch selbst zur Rampe gefahren und habe überprüft, ob der jeweilige Vertreter den Dienst auch tatsächlich übernommen habe und auf der Rampe erschienen sei. Ausserdem habe er - der Angeklagte - in diesen Fällen für einige Zeit aus dem Dienstgebäude, in dem ja auch Dr. Wirths tätig gewesen sei, verschwinden müssen, um Abwesenheit zwecks Rampendienst vorzutäuschen. Dr. Wirths habe aber schliesslich von seinem Verhalten erfahren, ihn angerufen und in scharfem Tone erklärt, er - der Angeklagte - müsse jetzt selbst mit zur Rampe gehen, zumal nunmehr derart viele Transporte kämen, dass jeder verpflichtet sei, seine Aufgabe selbst wahrzunehmen. Gegen diese Anordnung des Standortarztes habe er keine Einwendungen mehr erhoben, da am Tonfall der Stimme erkennbar gewesen sei, dass kein Widerspruch mehr geduldet werden würde.

 

In den vier Fällen, in denen er dann in der Folgezeit zu Selektionen auf der Rampe gewesen sei, ohne einen Vertreter gewonnen zu haben, sei jeweils der damalige Lagerkommandant Kramer anwesend gewesen, ausserdem jeweils noch irgend ein anderer Arzt oder Apotheker. Als er zum ersten Mal zur Rampe gekommen sei, habe er sich dort bei Kramer gemeldet und ihm vorgetragen, dass er gallenleidend sei. Kramer habe ihn jedoch sofort angefahren und erklärt: er wisse über ihn Bescheid, er - der Angeklagte - habe ja schon wegen Häftlingsbegünstigung ein Verfahren gehabt. Kramer habe dann auch geschrien, er - Kramer - lasse ihn sofort abführen.

 

In dieser Situation habe er - der Angeklagte - sich unmittelbar und stark bedroht gefühlt. Er habe daran gedacht, dass er zurück zur "Bewährungseinheit" komme und dort "verheizt" werde, auch habe er das unbestimmte Angstgefühl gehabt, heimlich beseitigt zu werden. Jedenfalls sei der Druck für ihn so stark gewesen, dass er nun selbst selektiert habe. Kramer habe dabei - wie auch in den folgenden Fällen - gleichsam mit der Pistole hinter ihm gestanden. Als er - der Angeklagte - nun möglichst viele Häftlinge zu der Gruppe der Arbeitsfähigen eingeteilt habe, sei Kramer dazwischengegangen und habe unverhältnismässig viele Häftlinge aus der Gruppe der arbeitsfähigen zu der Gruppe der zur Vergasung bestimmten Häftlinge gestellt. Dagegen habe er - der Angeklagte - nichts mehr tun können. Er habe sich lediglich später bei Dr. Wirths über Kramer, der ihm auf der Rampe dienstlich übergeordnet gewesen sei, dem aber keine ärztliche Kompetenz zugestanden hätte, beschwert.

 

Auch bei den folgenden Selektionen, zu denen er eingeteilt gewesen sei, sei er unter dem Druck der Situation, insbesondere des Lagerkommandanten Kramer, tätig geworden. Kramer habe ihn bei der zweiten Selektion gleich damit empfangen, dass er erklärt habe, er - der Angeklagte - wisse ja Bescheid. Daraufhin habe er - der Angeklagte - nichts mehr zu sagen

 

246 = JuNSV Bd.XXI S.426 ff.