Justiz und NS-Verbrechen Bd.XXXIV

Verfahren Nr.732 - 746 (1970 - 1971)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.740 LG Frankfurt/M. 08.10.1970 JuNSV Bd.XXXIV S.645

 

Lfd.Nr.740    LG Frankfurt/M.    08.10.1970    JuNSV Bd.XXXIV S.654

 

Nichtarbeitsfähige aufgeteilt wurde. Bei dieser Gelegenheit fragte er Dr. Wirths, warum zu derartiger Tätigkeit Ärzte notwendig seien, die doch an der Front dringender gebraucht würden. Dr. Wirths verwies auf "Anordnungen aus Berlin". Nach kurzer Zeit auf der Rampe entfernte sich der erschütterte Angeklagte vorzeitig und schützte plötzliche Übelkeit und Gallenbeschwerden vor.

 

Einige Tage später hatte der Angeklagte im Führerheim ein Gespräch mit Dr. Wirths, dem er nun erklärte, er könne derartige Selektionen nicht ausführen, da er unter Gallenbeschwerden leide, aber auch Erwägungen grundsätzlicher Art dagegenstünden. Dr. Wirths gab sich dem Angeklagten gegenüber verbindlich, nahm dessen Erklärungen ruhig hin und meinte, er - der Angeklagte - möge einsehen, dass das Befehle seien, und er werde die Notwendigkeit dieser Dinge auch noch einsehen; die Anordnungen kämen aus Berlin. Als der Angeklagte daraufhin Dr. Wirths fragte, ob die Staatsanwaltschaft in Kattowitz von den Vorgängen im Lager wisse, wurde Dr. Wirths "bösartig".

 

Etwa drei Wochen später forderte Dr. Wirths den Angeklagten erneut auf, mit zur Rampe zu fahren, um sich einweisen zu lassen. Auf der Fahrt zur Rampe bezog sich der Angeklagte erneut auf seine Gallenerkrankung und erklärte Dr. Wirths, dass er aus gesundheitlichen, aber auch aus weltanschaulichen Gründen keinen Dienst auf der Rampe leisten könne, im übrigen ohne ordentliche Untersuchung der ankommenden Häftlinge auch gar nicht über deren Arbeitsfähigkeit entscheiden könne. Noch vor Beendigung der Selektion, die von einem anderen Arzt durchgeführt wurde, fuhren Dr. Wirths und der Angeklagte wieder zurück.

 

Einige Tage danach wurde der Angeklagte im Flur des SS-Reviergebäudes von Dr. Wirths angesprochen und in dessen Dienstzimmer gebeten. Dr. Wirths erklärte ihm dann dort in der ihm eigenen verbindlichen Art, er - der Angeklagte - müsse sich damit vertraut machen, dass er zur selbständigen Tätigkeit auf der Rampe eingesetzt werde. Als der Angeklagte Einwendungen erhob, ging Dr. Wirths darauf nicht ein.

 

In der Folgezeit wurde der Angeklagte, der inzwischen als Truppenarzt ins Stammlager gekommen war, im Hinblick auf Rampendienst "in Ruhe gelassen". Weder sprach Dr. Wirths ihm gegenüber noch einmal davon noch wurde er zum Rampendienst eingeteilt. Als dann jedoch im Frühsommer 1944 die Massentransporte aus Ungarn einsetzten, wurde der Angeklagte schliesslich doch wieder zum Dienst auf der Rampe aufgefordert und beordert. Insgesamt nahm er ab etwa Mitte Mai 1944 bis zu seiner plötzlichen Versetzung als Lagerarzt zum KL Mauthausen im Sommer 1944 in vier Fällen auf der Rampe des KL Auschwitz-Birkenau an den Selektionen eingetroffener Häftlingstransporte teil, indem er selbst selektierte.

 

III. « Beweismittel »

 

Der festgestellte Sachverhalt beruht auf den Angaben des Angeklagten, auf den Aussagen der eidlich vernommenen Zeugen Prof.Dr. Fej., Har., Kem., Dr. Lin., Dr. Mo., Mü., Dr. Mün., Pa., Scho., Se., Dr. Wo., Dr. Ba. und des uneidlich vernommenen Zeugen Ju. sowie auf der verlesenen Aussage (vom 28.8.1962) und einem Schreiben (vom 15.10.1962) des verstorbenen Arztes Dr. Bej. und der verlesenen schriftlichen Erklärung (vom 22.7.1964) des verstorbenen Arztes Dr. Szy., ferner auf den in wesentlichen Teilen verlesenen Feststellungen, wie sie in dem insoweit rechtskräftigen Urteil des Schwurgerichts Frankfurt/Main vom 19./20.8.1965 (4 Ks 2/63) - dem Urteil des 1.Auschwitzprozesses - in dessen allgemeinen Teil (1. und 2.Abschnitt, S.9-89 245) und dem Abschnitt über den damaligen

 

245 = JuNSV Bd.XXI S.384-424.