Justiz und NS-Verbrechen Bd.XXXIV

Verfahren Nr.732 - 746 (1970 - 1971)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.740 LG Frankfurt/M. 08.10.1970 JuNSV Bd.XXXIV S.645

 

Lfd.Nr.740    LG Frankfurt/M.    08.10.1970    JuNSV Bd.XXXIV S.653

 

unterschrieb, nachdem er sie gegebenenfalls zuvor hinsichtlich der Todesursache entsprechend seinem Untersuchungsergebnis geändert hatte. Im Zigeunerlager fielen derart etwa 50 Tote täglich an, im Theresienstädter Lager eine geringere Anzahl, da die Verhältnisse dort - abgesehen von der Verpflegung - etwas besser waren.

 

Soweit er es konnte, bemühte sich der Angeklagte um die ärztliche Versorgung der kranken Häftlinge, kümmerte sich um Verbesserungen der hygienischen und sanitären Verhältnisse und sorgte für eine Verbesserung der Verpflegung. Gegenüber den Lagerärzten und sonstigen SS-Leuten fiel er den Häftlingen durch sein menschliches Verhalten auf und genoss bei ihnen einen guten Ruf. Er war von gleichbleibend ruhiger Freundlichkeit gegenüber den Häftlingen, bemühte sich sehr um sie und behandelte alle gleich, sprach sie per "Sie" an, benutzte den Häftlingsärzten gegenüber deren Titel und unterhielt sich mit ihnen über Diagnosen und anzuwendende Therapien.

 

Alle diese Verhaltensweisen des Angeklagten waren ungewöhnlich und widersprachen der Behandlung der Häftlinge durch andere SS-Leute, fielen den Häftlingen auch sofort besonders auf. Darüber hinaus beanstandete der Angeklagte mehrfach, jedoch vergeblich, die unzureichende Quantität und mangelhafte, wenn nicht gesundheitsschädliche Qualität der Verpflegung, wurde schliesslich wegen Verbesserung der Verpflegung bei der Lagerverwaltung vorstellig und geriet mit ihr deshalb in eine Kontroverse, brachte trotz der damit verbundenen möglichen Gefahr dem Häftlingsarzt Dr. Eppstein gegenüber seine Empörung über die Zustände im Zigeunerlager zum Ausdruck und besorgte aus der Lagerapotheke heimlich Salben und Medikamente für die Häftlinge. Nicht zuletzt nahm er - im Gegensatz zu den anderen Lagerärzten - keine Lagerselektionen vor und meldete auch nicht die hoffnungslosen Krankenfälle, obwohl ihm das vom Standortarzt Dr. Wirths und dem damaligen Lagerkommandanten in Birkenau, SS-Obersturmführer Hartjenstein, unter Hinweis auf die damit verbundene Reduzierung "unnützer Esser" anempfohlen und sehr nahegelegt worden war und obwohl ihm Vorhaltungen gemacht wurden, nachdem aufgefallen war, dass in den von ihm betreuten Lagern keine Selektionen mehr stattfanden.

 

Als der Angeklagte etwa sechs bis acht Wochen als Lagerarzt in Birkenau tätig gewesen war, wurde er dort abgelöst und als Truppenarzt im Stammlager eingesetzt. Er war froh, aus der von ihm mit "Hoffnungslosigkeit" umschriebenen Atmosphäre des Lagers Birkenau wegzukommen und arbeitete nun als Truppenarzt unter unvergleichlich besseren Umständen. Dennoch empfand er die Versetzung als eine Art Bestrafung für einen Vorfall, der sich kurz vor der Versetzung begeben hatte. Er hatte nämlich einen Häftling, bei dem er eine Netzhautablösung festgestellt hatte, ohne Genehmigung zur chirurgischen Behandlung in die besser ausgestattete Kranken- und Operationsbaracke des Stammlagers gebracht. Der Vorfall war der Lagerleitung bekannt geworden, und der damalige Lagerkommandant Hartjenstein drohte ihm daraufhin ein Verfahren wegen Häftlingsbegünstigung an. Allerdings wurde kein derartiges Verfahren eingeleitet oder durchgeführt, vielmehr wurde der Angeklagte jetzt als Truppenarzt eingesetzt. Als solcher arbeitete er im SS-Revier, wo auch der Standortarzt Dr. Wirths tätig war, und fühlte sich nicht zuletzt durch die räumliche Nähe von Dr. Wirths einer ständigen Beobachtung und Kontrolle ausgesetzt.

 

Noch während der Angeklagte im Lager Birkenau als Lagerarzt eingesetzt war, etwa Anfang 1944, nahm ihn Standortarzt Dr. Wirths erstmals zur Ankunft eines Häftlingstransportes mit auf die Rampe. Der Angeklagte, dem gegenüber Dr. Wirths zuvor lediglich einmal oberflächlich den sogenannten Rampendienst der Ärzte erwähnt hatte, sollte jetzt den Vorgang auf der Rampe kennenlernen und in die Aufgaben der dort tätigen Ärzte eingewiesen werden. Dr. Wirths erklärte ihm, dass die arbeitsfähigen Häftlinge ausgesucht und die nicht arbeitsfähigen Häftlinge vergast würden; er - der Angeklagte - solle zuschauen, wie das gemacht werde. Der Angeklagte sah dann auch, wie ein Transport müde und apathisch wirkender Häftlinge, der offenbar bereits "vorselektiert" worden war, in Arbeitsfähige und