Justiz und NS-Verbrechen Bd.XXXIV

Verfahren Nr.732 - 746 (1970 - 1971)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.740 LG Frankfurt/M. 08.10.1970 JuNSV Bd.XXXIV S.645

 

Lfd.Nr.740    LG Frankfurt/M.    08.10.1970    JuNSV Bd.XXXIV S.652

 

einem Apotheker von Lagerselektionen, den ankommenden Transporten mit jüdischen Häftlingen und der massenweisen Vernichtung von Häftlingen und Deportierten durch Gas. Als ihm dabei zumindest andeutungsweise bewusst wurde, dass auch Ärzte bei diesen Vorgängen ihre Funktion hatten, erklärte er seinem Gesprächspartner, er mache solche "Schweinereien" nicht mit. Dr. Wirths gegenüber brachte er alsbald zum Ausdruck, dass er die Vorgänge in Auschwitz als Verbrechen ansehe, woraufhin Dr. Wirths das Gespräch mit dem Hinweis darauf, dass Krieg herrsche, beendete und sich in der Folgezeit gegenüber dem Angeklagten reserviert zeigte.

 

Nachdem der Angeklagte sich kurze Zeit in Auschwitz befand und noch nicht regulär zum Dienst eingeteilt worden war, sondern ihm zunächst Gelegenheit gegeben worden war, das Lager und die auf ihn zukommende Arbeit kennenzulernen, fuhr er in Heimaturlaub nach Osnabrück. Dort suchte er, obwohl er 1937 aus der Kirche ausgetreten war, einen ihm in Erinnerung befindlichen Bischof namens Berning auf, berichtete ihm von Auschwitz und bat um Rat, wie er sich verhalten solle. Bischof Berning, der offenbar bereits etwas über derartige Vorgänge wusste, erklärte ihm, dass entsprechende Befehle unmoralisch seien und er sie nicht auszuführen brauche, konnte dem Angeklagten aber nicht sagen, wie er solche Befehle und ihre Ausführung umgehen könne, ohne dabei selbst in Gefahr zu geraten. Der Angeklagte suchte anschliessend noch einen Osnabrücker Landgerichtsdirektor namens Krämer auf, an den er sich wandte, weil er mit dessem Sohn zur Schule gegangen war. Auch Landgerichtsdirektor Krämer, der zum ersten Male von derartigen Dingen zu hören schien, wie sie ihm der Angeklagte berichtete, vermochte keinen Rat zu geben.

 

Nachdem diese Versuche für den Angeklagten fehlgeschlagen waren, wandte er sich nach dem Heimaturlaub von Auschwitz aus brieflich an seinen früheren Vorgesetzten in Nürnberg, den dortigen damaligen Standortarzt Dr. Ba., schilderte ihm mehr oder weniger deutlich die Vorgänge in Auschwitz und bat ihn um Hilfe beim Versuch, von Auschwitz wegzukommen. Dr. Ba. antwortete dem Angeklagten in dem Sinne, dass ihm eine Einflussnahme nicht möglich sei und er - der Angeklagte - sich "Durchlavieren" und an Ort und Stelle versuchen müsse, von dort wegzukommen, dass der Angeklagte im übrigen aber derartige Dinge nicht mehr in solch offener Weise schreiben und bitte vorsichtiger sein möge.

 

Als der Angeklagte von seinem Heimaturlaub ins KL Auschwitz zurückgekommen war, wurde er nunmehr auch dienstlich voll eingesetzt, nämlich als Lagerarzt im Lager Auschwitz-Birkenau für das Zigeunerlager und das Theresienstädter Lager. Er wohnte jedoch weiterhin in der nahe dem Stammlager gelegenen SS-Führerbaracke, in der ein Teil der SS-Ärzte, SS-Zahnärzte und SS-Apotheker untergebracht war und in der auch er selbst nach seiner Ankunft in Auschwitz ein Zimmer bekommen hatte, in dem er auch seinen von zu Hause mitgebrachten Schäferhund unterbringen konnte. Den Kontakt zu den übrigen SS-Ärzten, SS-Zahnärzten, SS-Apothekern und SS-Führern beschränkte er allerdings trotz der sich aus der Unterbringung ergebenen räumlichen Nähe auf das Notwendigste, vermied gesellschaftlichen Umgang mit ihnen und hielt sich - soweit es möglich war - für sich.

 

Durch seinen Einsatz im Zigeunerlager und Theresienstädter Lager lernte der Angeklagte die herrschenden Zustände erst in ihrem ganzen Ausmass kennen. Er sah, dass die Menschen dort in überbelegten pferdestallähnlichen Baracken eingepfercht waren, zu mehreren auf dreistöckigen blanken Holzpritschen in Schmutz und Gestank schlafen mussten, unter Hunger und Krankheiten litten und dass für die in den überfüllten Krankenbaracken liegenden Häftlinge kaum etwas getan werden konnte, da es praktisch keine Medikamente und sonstigen ärztlichen Hilfsmittel gab. Sein Tagesablauf begann jeweils damit, dass ihm sogenannte Kapos Listen mit Namen der am vergangenen Tag und in der vergangenen Nacht verstorbenen Häftlinge vorlegten. Er sah sich die Leichen dann im Leichenraum an und untersuchte sie auf Gewalteinwirkung, was sonst nicht üblich war. Häftlings-Ärzte, die ihm in genügender Anzahl zur Verfügung standen, hatten bereits Totenscheine vorbereitet, die er dann