Justiz und NS-Verbrechen Bd.XXXIV

Verfahren Nr.732 - 746 (1970 - 1971)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.740 LG Frankfurt/M. 08.10.1970 JuNSV Bd.XXXIV S.645

 

Lfd.Nr.740    LG Frankfurt/M.    08.10.1970    JuNSV Bd.XXXIV S.651

 

zusammengedrängt, dass sich niemand mehr von der Stelle zu rühren vermochte. Es kam vor, dass bei derartiger Überfüllung noch über die Köpfe der zusammengepressten Menge hinweg Kinder in die Gaskammern geworfen wurden. Wenn die Gaskammern mit Menschen gefüllt und die luftdichten Türen verschlossen und verriegelt worden waren, schütteten SS-Männer, die einem sogenannten Vergasungskommando angehörten, durch eine verschliessbare Öffnung über dem Vergasungsraum Zyklon B in einen in den Vergasungsraum führenden durchlöcherten Schacht. Bei diesem Zyklon B handelte es sich um ein in kerniger Form befindliches Gift, das jeweils in verschlossenen Blechbüchsen mit einem Sanitätswagen zur Vergasungsanlage gebracht wurde. Nach dem Einwurf dieses Giftes in den Vergasungsraum entwickelten sich durch die Berührung mit der Luft Blausäuredämpfe, die sich vom Boden her nach oben ausbreiteten. Die in der Gaskammer Eingeschlossenen, die spätestens jetzt erkannten, dass sie umgebracht wurden, starben unter schrecklichen körperlichen und seelischen Qualen innerhalb von Minuten durch Ersticken. Ihr Schreien war ausserhalb zu vernehmen, auch wenn dort Motorenlärm verursacht wurde, um dies zu übertönen.

 

Die Leichen der Vergasten wurden 15 bis 20 Minuten nach dem Einwerfen des Giftes - nachdem das in der Gaskammer befindliche Giftgas abgesaugt worden war - von Häftlingskommandos aus dem Vergasungsraum abtransportiert, auf Goldzähne hin untersucht, die gegebenenfalls aus dem Gebiss herausgebrochen wurden, und dann in den Krematorien oder - bei zu grosser Menge - auch im Freien in ausgehobenen Gräbern verbrannt. Besonders nachdem ab Frühsommer 1944 fast täglich Massentransporte ungarischer Juden in Auschwitz eintrafen, waren die Krematorien Tag und Nacht in Betrieb, weithin wahrnehmbar durch ihren Rauch und den nachts leuchtenden Feuerschein.

 

Auf diese Weise konnten in Auschwitz täglich bis zu 12000 Menschen "vergast" werden. Insgesamt wurden dort mehrere Millionen Menschen umgebracht - die nicht genau festzustellende Zahl dürfte nach allen bisherigen Erkenntnissen zwischen zwei und vier Millionen liegen.

 

Der Angeklagte meldete sich nach seiner Ankunft in Auschwitz bei Dr. Wirths, dem damaligen Standortarzt. Dr. Wirths stand an der Spitze des ärztlichen Dienstes, wie er für das Gesamtlager Auschwitz eingerichtet worden war: ihm unterstanden die für die Behandlung des SS-Personals zuständigen SS-Truppenärzte, weiter die für die Betreuung der Häftlinge zuständigen SS-Lagerärzte, ferner die für die zahnärztliche Behandlung des SS-Personals und die zahnärztliche Betreuung der Häftlinge zuständigen SS-Zahnärzte und schliesslich der die Lagerapotheke leitende Lagerapotheker. Von Dr. Wirths erfuhr der Angeklagte nun, dass er als Lagerarzt eingesetzt werden solle. Dr. Wirths gab ihm zugleich allgemeine Hinweise auf die Art und Weise seiner Tätigkeit als Lagerarzt. Danach war der Angeklagte ausser für die ärztliche Betreuung auch für die hygienischen und sanitären Einrichtungen der ihm unterstellten Lagerabschnitte verantwortlich, hatte Epidemien und Seuchen zu verhindern, sollte Neuzugänge und die täglich sich krankmeldenden Häftlinge untersuchen, die Zubereitung und Qualität der Verpflegung kontrollieren und die in der Häftlingsküche beschäftigten Häftlinge auf ansteckende Krankheiten hin überwachen. Im Anschluss an dieses Gespräch mit Dr. Wirths wurde dem Angeklagten sowohl das Stammlager als auch das Lager Birkenau bei einem Rundgang bzw. einer Rundfahrt oberflächlich gezeigt, so dass er allgemein über die Örtlichkeit orientiert war.

 

Bereits bei seiner Ankunft auf dem Bahnhof in Auschwitz hatte der Angeklagte einen ersten Eindruck von dem, was Auschwitz bedeutete und was nun auf ihn zukommen würde, dadurch erhalten, dass er einen Trupp verhungert und elend aussehender Häftlinge auf dem Weg zur Arbeit hatte vorbeikommen sehen. Auf Grund der weiteren eigenen Anschauung beim Kennenlernen des Lagers, aber auch auf Grund von Gesprächen war er alsbald über die Zustände und das Geschehen in Auschwitz orientiert. Schon in den ersten Tagen seines Lageraufenthalts erfuhr er gelegentlich einer Unterhaltung mit dem Zahnarzt Dr. Schatz oder