Justiz und NS-Verbrechen Bd.XXXIV

Verfahren Nr.732 - 746 (1970 - 1971)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.740 LG Frankfurt/M. 08.10.1970 JuNSV Bd.XXXIV S.645

 

Lfd.Nr.740    LG Frankfurt/M.    08.10.1970    JuNSV Bd.XXXIV S.650

 

Wurden ursprünglich alle mit diesen RSHA-Transporten ankommenden Menschen alsbald nach der Ankunft umgebracht, so erging nach den ersten Transporten Befehl, die arbeitsfähigen Männer und Frauen auszusondern, um sie zum Arbeitseinsatz zu verwenden, so dass nunmehr nach Ankunft eines Transportes einen Teil der Deportierten - bis zu etwa 25% - von der sofortigen Vernichtung ausgenommen wurde. Diese Aussonderung, Selektion genannt, spielte sich folgendermassen ab: Nach dem Verlassen der Waggons mussten sich die Menschen, die vielfach entkräftet und krank waren, in Kolonnen aufstellen. Dabei sonderten SS-Männer bereits Frauen mit Kleinkindern, Krüppel, alte und kranke Menschen sowie Kinder unter 16 Jahren nach dem Augenschein von den übrigen Deportierten ab und liessen sie in Kolonnen Aufstellung nehmen (Vorselektion). Die übrigen Angekommenen mussten - nach Männern und Frauen getrennt - ebenfalls in Kolonnen antreten und dann, nachdem die Zahl der Angekommenen mit den Transportpapieren verglichen worden war, an SS-Führern und uniformierten SS-Ärzten einzeln vorbeimarschieren. Es war nun Aufgabe der SS-Ärzte, die vorbeikommenden Menschen nach dem dabei gewonnenen augenblicklichen Eindruck auf Grund des Augenscheins nach arbeitsfähigen und nicht arbeitsfähigen Menschen zu klassifizieren. Auf Grund von Handbewegungen der Ärzte nach rechts oder links mussten die Menschen jeweils bei der Gruppe links oder bei der Gruppe rechts Aufstellung nehmen, wobei die eine Gruppe die der arbeitsfähigen Menschen und die andere Gruppe die der nicht arbeitsfähigen Menschen darstellte. Bei dieser sogenannten Selektion auf der Rampe wurden vielfach rücksichtslos Familien, Verwandte, Bekannte und Freunde auseinandergerissen.

 

Während des Selektierens und daran anschliessend sammelten Häftlingskommandos unter der Aufsicht von SS-Mannschaften das von den Deportierten mitgebrachte Handgepäck ein und schafften es ins Lager, wo die im Gepäck enthaltenen Wertsachen ausgesondert und die übrigen Gegenstände - sofern sie nur verwertbar erschienen - in Lagerbaracken gestapelt wurden. Ferner wurden von den Häftlingskommandos die Leichen der Menschen, die während des Transportes umgekommen und nur noch tot in Auschwitz angekommen waren, abtransportiert.

 

Die als arbeitsfähig ausgesonderten Häftlinge wurden unter Bewachung von SS-Kommandos ins Lager geführt, dort "gebadet", geschoren, mit Häftlingskleidung versehen, karteimässig erfasst - allerdings nicht, wie Schutzhaftlagergefangene, erkennungsdienstlich behandelt - und nun als Lagerhäftlinge geführt.

 

Die Häftlinge, die bei der Selektion als arbeitsunfähig bezeichnet worden waren, wurden von der Rampe weg zu Gaskammern geführt oder - soweit sich kranke und nicht gehfähige Menschen unter diesen Häftlingen befanden - mit Lastwagen dorthin gebracht. Bereits auf der Rampe war ihnen erklärt worden, sie würden anschliessend gebadet und dann zur Arbeit eingeteilt; Familien, die zusammenbleiben wollten, war bereits auf der Rampe beruhigend mitgeteilt worden, dass sie nach dem Baden wieder zusammengeführt würden. Vor den Gaskammern, die sich in dazu umgebauten Bauernhäusern beim Lager Birkenau und bei den verschiedenen Krematorien befanden, wurden die Häftlinge aufgefordert, sich zum Baden zu entkleiden, und dann meist in einen entsprechenden Entkleidungsraum geführt, in dem sich an den Wänden verschiedensprachig gefasste Aufschriften mit Hinweisen auf die Bade- bzw. Duscheinrichtung sowie numerierte Kleiderhaken befanden. Durch diese Einrichtung und entsprechende Hinweise und Erklärungen der Bewachungsmannschaften sollte erreicht werden und wurde auch weitgehend erreicht, dass die Menschen bis zum Schluss arglos blieben. Nach dem Entkleiden mussten die Häftlinge sich in den Vergasungsraum begeben, der ihnen als Duschraum bezeichnet wurde und als solcher auch durch Aufschriften und an der Decke als Attrappen angebrachte Brausen kenntlich gemacht war. Wenn die jeweiligen Vergasungsräume, die ebenso wie die zugehörigen jeweiligen Entkleidungsräume - je nach Grösse - Menschenmengen von mehreren hundert bis zu 2000 Personen fassen konnten, gefüllt waren, sich jedoch noch nicht alle Häftlinge in ihnen befanden, dann mussten sich die bereits darin stehenden Menschen eng zusammendrängen oder wurden gewaltsam so stark