Justiz und NS-Verbrechen Bd.XXXIV

Verfahren Nr.732 - 746 (1970 - 1971)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.740 LG Frankfurt/M. 08.10.1970 JuNSV Bd.XXXIV S.645

 

Lfd.Nr.740    LG Frankfurt/M.    08.10.1970    JuNSV Bd.XXXIV S.647

 

Nachdem der gesellschaftlich zurückgezogen lebende und das Kasinotreiben ablehnende Angeklagte bei einem Bierabend in Nürnberg eine defaitistische Äusserung gemacht hatte, wurde er etwa im November 1943 - ohne dass wegen der Äusserung ein Verfahren gegen ihn geführt worden war - zum SS-Fallschirmjäger-Bataillon 500 nach Krajewo bei Belgrad kommandiert. Dieses Bataillon wurde gerade aufgebaut und setzte sich im Mannschaftsteil aus abkommandierten sogenannten B-Schützen, Schützen aus Bewährungseinheiten, zusammen. Eine Luftwaffeneinheit bildete die Angehörigen dieses Bataillons im Fallschirmspringen aus, wobei der Dienstbetrieb durchaus normal verlief, wie sich überhaupt weder im Dienst noch in der Freizeit auswirkte, dass hier Angehörige von Bewährungseinheiten zusammengefasst waren. Bei diesem Fallschirmjäger-Bataillon, das erst im Jahre 1944 verschiedentlich - teilweise recht verlustreich - eingesetzt wurde, war auch der Angeklagte neben einem weiteren Arzt als Truppenarzt tätig, musste aber auch die Sprungausbildung mitmachen. Da er die Versetzung zu dieser Einheit als eine Art Strafversetzung empfand, ihm der Dienst dort sehr hart erschien und er zu der Auffassung kam, die Einheit werde "verheizt" werden, war sein Bestreben, so bald wie möglich wieder von dieser Einheit wegzukommen. Er fuhr deshalb kurze Zeit später zu einem in Belgrad stationierten SS-Oberführer namens Bonne, den er aus Danzig her persönlich kannte, und bat ihn, sich für seine Wegversetzung vom Fallschirmjägerbataillon 500 zu verwenden.

 

Anfang bis Mitte Dezember 1943 wurde der Angeklagte dann - vermutlich auf das Einschalten seines Bekannten hin - nach Berlin ins Reichssicherheitshauptamt (RSHA) beordert und erhielt dort den Befehl, sich zur weiteren Dienstleistung im Konzentrationslager (KL) Auschwitz zu melden. Ohne näher zu wissen, was Auschwitz bedeutete und wie seine Tätigkeit dort aussehen würde, setzte er sich daraufhin nach Auschwitz in Marsch.

 

Das KL Auschwitz war eines der zahlreichen Lager, die unter der Herrschaft des Nationalsozialismus nach den Plänen und auf Anordnung der damaligen Machthaber in den von ihnen beherrschten Gebieten errichtet wurden, um politische Gegner oder sonst missliebige Personen ausserhalb gerichtlicher Verfahren und frei von öffentlicher und justizieller Kontrolle einzusperren und "auszuschalten", wobei bereits die Deportation dieser Menschen, dann aber vor allem ihr Aufenthalt in den Konzentrationslagern, in denen ständiger Terror herrschte, mit menschenunwürdigster Behandlung und fortgesetzten körperlichen und seelischen Quälereien verbunden war und vielfach zur physischen Vernichtung, nämlich Tötung der Häftlinge, führte und diente. Das KL Auschwitz war zugleich das grösste derjenigen Konzentrationslager, in denen nach dem Willen der nationalsozialistischen Machthaber und in Konsequenz ihrer damals in weiten Kreisen akzeptierten oder tolerierten Ideologie nicht nur individuell bezeichnete Personen, sondern systematisch, organisiert und im grössten Umfang bestimmte Personengruppen und Angehörige bestimmter Volks- und Glaubenszugehörigkeit, insbesondere Juden, durch massenhafte Tötung vernichtet wurden.

 

Mit der Errichtung dieses Konzentrations- und Vernichtungslagers wurde im Auftrag Himmlers (Reichsführer-SS) im Frühsommer 1940 unter Leitung des späteren 1.Lagerkommandanten Höss begonnen. Das Lager wurde bei Auschwitz/Polen in einer Sumpfniederung zwischen den Flüssen Sola und Weichsel auf dem Gelände einer ehemaligen polnischen Artillerie-Kaserne angelegt, sollte ursprünglich als Durchgangslager dienen, wurde aber schon bald nach dem Eintreffen der ersten polnischen Häftlingstransporte im Sommer 1940 erweitert und einerseits zum Reservoir für billigste menschliche Arbeitskräfte bestimmt und als solches dann auch in immer stärkerem Umfange für hier bestehende oder neugeschaffene Industriebetriebe sowie für SS-eigene Produktionsstätten und Betriebe benutzt, andererseits als Vernichtungsstätte für Arbeitsunfähige und sonst zum Tode ausersehene Deportierte und Häftlinge eingerichtet. So wurde ausser dem auf dem ehemaligen Kasernengelände entstandenen sogenannten Stammlager ab Oktober 1941 in etwa 2 bis 3 km Entfernung von diesem Stammlager bei dem Ort Birkenau das Lager Auschwitz-Birkenau errichtet (siehe anliegende