Justiz und NS-Verbrechen Bd.XLVI

Verfahren Nr.892 - 897 (1984 - 1985)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.897 LG Hagen 04.10.1985 JuNSV Bd.XLVI S.543

 

Lfd.Nr.897    LG Hagen    04.10.1985    JuNSV Bd.XLVI S.636

 

Wenn ihnen gegenüber wiederholt Drohungen, insbesondere von Wirth ausgestossen worden seien, dann jeweils in dem Zusammenhang, dass sie gewarnt wurden, gegen die Geheimhaltung zu verstossen; es sei immer nur um die Geheimhaltung gegangen, schon deswegen hätten sie nicht weg und an die Front kommen können. Er wisse zwar von zwei oder drei Leuten, die mal wirklich weggekommen seien, und zwar einmal aus der Euthanasie und in einem anderen Fall aus Treblinka, die hätten aber wohl - unter Alkoholeinfluss - gegen die Geheimhaltungspflicht verstossen gehabt.

 

Trotz seiner grundsätzlich christlichen Erziehung habe ihn die allgemeine Propaganda schon beeinflusst, aber einer Propaganda etwa in dem Sinne, bei den Juden handele es sich - ähnlich wie bei der Euthanasie - um unwertes Leben, sei er nicht erlegen.

 

Klargestellt hat der Angeklagte in der Hauptverhandlung, dass seine in einem Brief vom März 1963 abgegebenen Erklärungen, die unter anderem Äusserungen beinhalteten, er sei in Sobibor der Ansicht gewesen, dass alle dort getroffenen Massnahmen von ihrer damaligen Regierung nicht nur gesetzlich befohlen waren, sondern dass sie als zwar erschütternde, aber notwendige Gegenmassnahmen im totalen Krieg angesehen werden mussten, nicht eigene, von seiner wirklichen Einstellung getragene Gedanken darstellen, sondern von dritter Seite vorformulierte Überlegungen widerspiegeln, die er aus prozesstaktischen Gründen damals mitgeteilt habe, zu denen er nicht stehe. Diese Klarstellung gilt auch für die weiteren seinerzeitigen Ausführungen, auch der Besuch Himmlers an Ort und Stelle mit seinem Stab habe ihn in seiner damaligen Überzeugung bestärkt, die Massnahmen dort seien kriegsnotwendig; ausserdem habe er im Winter 1943, auf die Bemühung wegzukommen, eine Absage bekommen, mit dem Hinweis versehen, er könne höchstens zur SS kommen. Das aber habe er nicht gewollt und so habe er sein echtes Bemühen, aus Sobibor wegzukommen, als gescheitert ansehen müssen. Später ist er von diesem Schreiben, wie auch noch mal in der jetzigen Hauptverhandlung deutlich geschehen, abgerückt und hat klargestellt, dass ihm jene Erklärungen vorformuliert worden seien, nicht originär von ihm stammten und nicht seine damalige Einstellung zutreffend wiedergäben.

 

Gleichwohl hat er einige Male mit ähnlichen Formulierungen wie in jenem Brief wieder erklärt, dass er in Sobibor genauso wie alle anderen seine Pflicht getan, sich insbesondere gegenüber den anderen Mitangeschuldigten nicht hervorgetan habe. In solchen Vernehmungsabschnitten hat der Angeklagte sich wertend auf eine Stufe mit K. 381 gestellt und gemeint, er habe sich genauso verhalten wie jener. Bei anderen Gelegenheiten ist er dann jedoch wieder von solchen beschönigenden Darstellungen, die - bei Berücksichtigung seiner sonstigen eigenen Darstellung seines äusseren Handlungsbeitrages im Lager Sobibor - als völlig unrealistisch erscheinen, abgerückt und hat eingeräumt, dass ihn schon damals stark beschäftigt habe, wie die wehrlosen und ahnungslosen Opfer der Vernichtungsaktion behandelt worden seien; die Durchführung der Aktion, ihre Grausamkeit und zugleich ihre ängstliche Geheimhaltung hätten in ihm damals die Erkenntnis geweckt, dass in Sobibor und in anderen Vernichtungslagern ein grosses Unrecht geschehen sei.

 

Der Angeklagte selbst hat jedoch auch in solchen Vernehmungssituationen niemals zu erklären unternommen, weswegen er trotz der Einsicht, an grossem Unrecht mitzumachen, dann, wie er selbst wiederholt eingeräumt hat, sich im Lager dazu entschieden hat, von mehreren möglichen die strengere Linie einzuschlagen. Er hat stets nur angegeben, er habe auch im Vergleich zu seinen Kameraden nicht nach der milden Seite hin auffallen wollen. Den ihm im Rahmen des allgemeinen Befehls gegebenen Spielraum habe er in diesem Sinne ausnutzen wollen.

 

381 Siehe Lfd.Nr.233.