Justiz und NS-Verbrechen Bd.XLVI

Verfahren Nr.892 - 897 (1984 - 1985)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.897 LG Hagen 04.10.1985 JuNSV Bd.XLVI S.543

 

Lfd.Nr.897    LG Hagen    04.10.1985    JuNSV Bd.XLVI S.634

 

Arbeitshäftlingen. Auf den Angaben des Angeklagten beruhen nämlich die Feststellungen, 50 Menschen seien auf dem Weg vom Lager IV zum Lager I gewesen, als der Aufstand ausbrach und seien unmittelbar erschossen worden. Im Lager I seien ca. 150 Menschen zurückgeblieben. Etwa 80 bis 100 Juden hätten im Verlaufe des unmittelbaren Aufstandsgeschehens den Tod erlitten. Von den übrigen etwa 160 Menschen habe die Reiterschwadron etwa 80 bis 85 zurückgebracht.

 

Da diese Zahlen und ihre Zuordnung zu den einzelnen Abschnitten des Aufstandsgeschehens mit dem Angeklagten sehr intensiv erörtert worden sind, ihm in diesem Zusammenhang auch "Erfolgsberichte" aus der damaligen Zeit, die die angenommenen Zahlen bestätigen, vorgehalten worden sind, geht die Kammer davon aus, dass diese wiederholt annähernd gleichbleibend genannten Zahlen die wirklichen Verhältnisse in etwa richtig treffen. Die während anderer Verfahrensabschnitte von Frenzel angegebene kleinere Zahl von Arbeitshäftlingen beruht nach Auffassung der Kammer nicht darauf, dass der Angeklagte hier eine echte Erinnerung reproduziert hat. Das ergibt sich nicht zuletzt daraus, wie er jeweils erklärt hat, weswegen allenfalls 250 bis 280 Arbeitsjuden, wie er dann oft gesagt hat, in Sobibor als Arbeitshäftlinge im Lager I und Lager II eingesetzt gewesen seien. Er hat dann nämlich allgemein gemeint, der Platz innerhalb des Lagers I sei ja gar nicht gross genug gewesen, damit eine grössere Zahl von Arbeitsjuden dort Aufstellung nehmen, gar hätten exerzieren können. Bei anderer Gelegenheit hat er auf die Bekundung von Zeugen, es seien 600 Arbeitsjuden dort gewesen, darauf hingewiesen, die Schlafplätze in den Baracken hätten dafür nicht ausgereicht. Beide zuletzt genannten Argumente hält auch die Kammer für beachtlich, sie belegen aber nur, dass die Zahl 600 möglicherweise übersetzt gewesen ist. Auch diese Zahl beruht letztlich nur auf Schätzungen der Arbeitsjuden, möglicherweise in der Nachlagerzeit dadurch beeinflusst, dass die Zeugen sich untereinander, wie noch darzustellen sein wird, über ihre Erinnerungen unterrichtet und letztlich oft abgestimmt haben werden, wenn auch möglicherweise unbewusst. Dafür, dass auch der Angeklagte keine wirkliche genaue Zahlenvorstellung hat, spricht nicht zuletzt, dass er die Arbeitsjuden stets als völlig wertlos, namenlos gekennzeichnet hat, die es nicht der Mühe wert waren, sich im einzelnen einzuprägen, wieviel es genau waren.

 

Sicher ist allerdings, dass der Angeklagte zumindest bei seinen Kommandos und auch über den jeweiligen Gefangenenstand in groben Umrissen Bescheid gewusst hat. Dafür spricht nicht nur seine Funktion, sondern auch insbesondere der Umstand, dass täglich mindestens 2 Zählappelle stattfanden. Diese gaben zwar einerseits schon deswegen einen Sinn, weil sie der Disziplinierung der Arbeitsjuden dienten, zugleich ergab sich aus ihrer Abhaltung aber auch die Möglichkeit der zahlenmässigen Erfassung der Arbeitskräfte. Letzteres war auch deswegen nicht unwichtig, weil bei dieser Gelegenheit immer wieder Zuteilungen zu einzelnen, besonderen Arbeitskommandos stattfanden, die deutschen Unterführern unterstanden. Es erscheint auch nicht ausgeschlossen, dass einzelne jüdische Zeugen bei der Nennung ihrer Gesamtzahl von etwa 600 Arbeitsjuden jene miteingerechnet haben, die im Lager III sich befanden. Unter weiterer Berücksichtigung, dass es auch in der letzten Zeit vor dem Aufstand Veränderungen in der Zahl der Arbeitsjuden gegeben hat, wie sich nicht zuletzt aus dem Vorfall ergibt, als die mindestens 10 Kranken abtransportiert wurden, ist letztlich eine exakte Festlegung der Zahl der im Lager I und II bei Beginn des Aufstandes lebenden Arbeitsjuden nicht mehr möglich. Die Kammer hält die vom Angeklagten errechnete Zahl von ca. 450 für zutreffend.

 

Selbst wenn man jedoch von einer höheren Zahl, nämlich bis zu 600 Arbeitsjuden ausginge, würde das auf die nachstehend noch zu erläuternde Berechnung der Mindestzahl von in Sobibor getöteten Menschen keinen Einfluss haben, weil in die Berechnung jener Zahl eine beträchtliche Zahlengrösse eingestellt ist, die den Unsicherheitsfaktor, der sich aus vorstehenden Überlegungen ergibt, um ein Mehrfaches kompensiert.