Justiz und NS-Verbrechen Bd.XXXVI

Verfahren Nr.758 - 767 (1971 - 1972)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.758 LG Kiel 02.08.1971 JuNSV Bd.XXXVI S.5

 

Lfd.Nr.758    LG Kiel    02.08.1971    JuNSV Bd.XXXVI S.62

 

aber mit Abwehrkämpfen in Verbindung gebracht. Der Zeuge Las., der sich, von einem Beamten gedeckt, einfach in die für den Treck ausgesonderten Gefangenen eingereiht hatte und vermutlich nur deshalb überlebte, hatte zwar ein Gefühl, dass etwas Bedrohliches geschehen könnte. Er befand sich jedoch in einer Situation, in der er stets Angst vor Prügel und Erschiessen hatte.

 

Hauptsächlich stützt das Gericht seine Feststellungen jedoch insoweit auf die Aussagen der Zeugen Ess. und Lec. Der Zeuge Ess., der zu den für die Erschiessung Ausgewählten gehörte, hatte Schüsse nicht gehört, obwohl seine Zelle im Ostflügel zum Hof hin lag. Er rechnete nicht damit, erschossen zu werden. Im Gespräch untereinander hatten die Gefangenen beim Hinausführen aus ihrer Zelle gehofft, dass sie für eine Entlassung Zivilkleidung bekommen würden. Erst als der Zeuge Ess. sich an der Erschiessungsstätte auf die Erde legen musste, merkte er, was los war. Der Zeuge Lec. hatte bis in die späten Abendstunden in seiner Zelle geschlafen, bis 10 Mann aus seiner Zelle herausgerufen wurden. Nach einer weiteren halben Stunde wurde auch er mit dem Rest der Gefangenen herausgerufen. Er befand sich, wie auch seine Mitgefangenen, im Ungewissen über sein Schicksal. Er hoffte, entlassen zu werden. Diese Hoffnung war dadurch genährt worden, dass die Justizbeamten bereits viel früher eine Gruppe namentlich genannt und herausgeführt hatte, von denen es hiess, sie sollten entlassen werden. Als der Zeuge mit seiner Gruppe herausgeführt wurde, sagte man ihm nicht, was geschehen werde. Der Zeuge zog auch eine Verlegung in Betracht, weil er bereits russische Flak hören zu können glaubte.

 

Soweit der Zeuge und ehemalige Justizbeamte H.F. Mül. aus der grossen Unruhe im Zuchthaus und der ehemalige Justizbeamte, der Zeuge Arn., unsubstantiiert den Schluss zogen, alle Gefangenen hätten über ihr Schicksal Bescheid gewusst, sind diese Aussagen nicht geeignet, die Angaben der Häftlinge, insbesondere der Zeugen Ess. und Lec., zu widerlegen. Der Zeuge Mie., der am Aufschliessen der Zellen im Ostflügel behilflich war, hörte dabei, dass der inzwischen verstorbene erste Justizhauptwachtmeister Krause den Gefangenen sagte, sie würden zum Abtransport eingekleidet werden. Hierbei kann es sich jedoch um die Gefangenen gehandelt haben, die zur Begleitung des Trecks ausersehen worden waren. Diese Annahme wird durch die Aussage des Zeugen Lec. gestützt, der von einer ersten, am Nachmittag ausgewählten Gruppe, berichtete, denen die Justizbeamten das Versprechen abgegeben hatten, dass sie entlassen werden würden. Danach hätte sich allgemein eine frohe Stimmung unter den Gefangenen verbreitet. Das Schicksal dieser Gefangenen ist unbekannt. Es liegt aber nahe, dass sie schliesslich zum Treck gekommen sind, weil sie bereits am Nachmittag aus ihren Zellen herausgeholt worden waren. Es kann jedenfalls nicht festgestellt werden, dass Justizbeamte den für die Erschiessung vorgesehenen Häftlingen bewusst etwas Falsches gesagt haben, um Unruhe zu vermeiden. Es haben sich keine genügenden Anhaltspunkte dafür ergeben, dass Häftlinge, denen die Beamten ihre Einkleidung in Zivil und ihre Entlassung versprochen hatten, erschossen worden sind. Auch dem Zeugen Sav. hat das Gericht geglaubt, dass er bis zum Erreichen der Erschiessungsstätte ahnungslos war. Ihm und seinen beiden Mitgefangenen war bei dem Herausführen aus der Zelle nicht gesagt worden, wohin sie gebracht werden sollten. Sie hatten an eine eventuelle Verlegung gedacht.

 

Die Überzeugung des Gerichts, dass auch weitere schliesslich erschossene Häftlinge ihrem Schicksal ahnungslos entgegen gegangen sind, wird auch dadurch gestützt, dass der Erschiessungsvorgang mit relativ grosser Disziplin durchgeführt werden konnte. Nur wenige Gefangene versuchten auszureissen, und das auch erst, als sie bereits das Holzhoftor durchschritten hatten und unmittelbar zur Erschiessungsstätte geführt werden sollten. Der geordnete Ablauf der Erschiessung ist nur erklärlich, wenn ein grosser Teil der Gefangenen weitgehend von seinem bevorstehenden Schicksal nichts wusste. Andererseits konnte das Gericht nicht ausschliessen, dass eine erhebliche Anzahl der getöteten Gefangenen vorher von seinem Schicksal wusste. Immerhin hat der Zeuge H.F. Mül., der damals Angehöriger der Wachmannschaft war und zwischen den Aussenmauern seinem Wachdienst nachzugehen hatte, ausgesagt,