Justiz und NS-Verbrechen Bd.XLVI

Verfahren Nr.892 - 897 (1984 - 1985)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.897 LG Hagen 04.10.1985 JuNSV Bd.XLVI S.543

 

Lfd.Nr.897    LG Hagen    04.10.1985    JuNSV Bd.XLVI S.579

 

Ab Juni 1942 wurden dann die Gehunfähigen mit Loren dorthin transportiert. Dieser Bereich im Lager III wurde im Lagerjargon "Lazarett" genannt. Beim Abtransport wurde, wie Frenzel wusste, so verfahren, dass Arbeitsjuden des Bahnhofskommandos die Loren bis etwa 50 m vor den Zugang zum Lager III schoben, zu einem mit einem Pfahl markierten Punkt. In einer späteren Lagerzeit wurde eine kleine Feldbahnlokomotive eingesetzt, die die Lorenbahn zog. Beaufsichtigt wurde der jeweilige Transport von einem deutschen Unterführer. Von der markierten Haltestelle wurden die Loren von Arbeitsjuden des Lagers III in dieses hineingezogen.

 

Häufiger waren Hubert G. 330 oder SS-Unterscharführer Josef Falasta, bei anderer Gelegenheit SS-Unterscharführer Franz Hödl, SS-Oberscharführer Karl Ludwig oder in anderen Fällen Kurt Bol. diejenigen im Lager III eingesetzten Männer, denen der Krankentransport übergeben wurde und die für die weitere "Behandlung" sorgten.

 

Frenzel wusste aus eigener Beobachtung, welche Leiden die Menschen, die so, wie geschildert, zum "Lazarett" gekarrt wurden, erlitten und dass sie dort weitere Qualen dadurch erleiden mussten, dass sie am Erschiessungsplatz die Leichen schon zuvor Getöteter sahen. Die am Erschiessungsplatz eingetroffenen Menschen, die nicht als erste erschossen wurden, mussten zudem miterleben, wie ihre Mitopfer in ihrer Gegenwart erschossen wurden. Dieses steigerte die Todesangst aufs äusserste, die die Menschen sowieso schon angesichts der äusseren Umstände überkommen hatte. Genaue Einzelheiten sind zwar nicht mehr feststellbar, jedoch steht fest, dass die Erschiessungen an einer offenen Leichengrube stattfanden, und dass die dorthingebrachten sich auf den Bauch legen mussten, mit Karabinern durch Genickschuss erschossen wurden. Die letzte Lebensspanne der Opfer war angesichts des bereitstehenden Tötungskommandos, des grauenhaften Anblicks einer grossen Zahl Ermordeter, gesteigert durch den entsetzlichen Gestank verwesender Leichen, bzw. verbrannten Menschenfleisches, von grösster Seelenpein gekennzeichnet. Hinzu kam, dass es immer wieder vorkam, dass Menschen, auf die geschossen worden war, in die Gruben hineinstürzten, ohne sofort tödlich getroffen worden zu sein, so dass sich ihr Todeskampf noch weiter verlängerte. Dieses blieb wiederum jenen nicht verborgen, die noch im Bereich des Erschiessungsbereiches auf ihre Tötung warteten.

 

Die weitere Transportabwicklung der auf der Rampe zusammengestellten Gruppen der Gehfähigen verlief während der gesamten Lagerzeit nach einem Schema, das im wesentlichen gleichblieb. Bauliche Veränderungen, die während des Lagerbestehens durchgeführt wurden, änderten zwar den Weg, den die Menschen zurückzulegen hatten. Auch wurden sie innerhalb des Lagers an unterschiedlichen Stellen gesammelt und es waren nicht immer dieselben Plätze, an denen sie ihre Kleidungsstücke ablegen mussten. Doch hatten diese Änderungen im wesentlichen organisatorische Gründe und änderten nichts an dem prinzipiellen Ablauf der Transportabwicklung. Dem Angeklagten, der mindestens zweimal Abteilungen von Gehfähigen durch den Schlauch bis zum Lager III führte, war auch dieser Teil des Vernichtungsvorgangs bekannt.

 

Die auf der Rampe nach Geschlechtern aufgeteilten Gruppen wurden nacheinander durch den Schlauch in Richtung Lager II geführt. Zumeist war es so, dass zunächst die Männergruppe abgeführt wurde. Die Gruppe wurde jeweils von einem oder mehreren deutschen Wachmännern begleitet. Die Menschen, die vom Bereich der Bahnrampe in Richtung Lager II geführt wurden, konnten auf dem Weg einen Eindruck vom Vorlager gewinnen. In das Lager I, den Bereich der Unterkünfte und Werkstätten, konnten sie nicht hineinschauen, weil insoweit Einblicke durch eine Bretterwand und im übrigen durch Stacheldrahtzäune, mit Zweigen

 

330 Siehe Lfd.Nr.017, 233 und 885.