Justiz und NS-Verbrechen Bd.XLVI

Verfahren Nr.892 - 897 (1984 - 1985)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.897 LG Hagen 04.10.1985 JuNSV Bd.XLVI S.543

 

Lfd.Nr.897    LG Hagen    04.10.1985    JuNSV Bd.XLVI S.559

 

Bei der Erfassung der Opfer bediente sich die SS wiederum der erzwungenen Hilfe der Judenräte und der jüdischen Ghettopolizei. Aus Ghettos oder Wohnbezirken in kleineren Ortschaften mussten die Juden, soweit nicht Pferdefuhrwerke zum Transport der nicht Gehfähigen eingesetzt wurden, längere Fussmärsche zu den Sammelplätzen oder direkt in die Vernichtungslager antreten. Auch hierbei wurden sie auf die geschilderte Weise angetrieben und misshandelt. Wiederholt wurden die aus einzelnen kleineren Orten kommenden Transporte so zusammengeführt, dass sie schliesslich grössere Transporte auf den Fussmärschen bildeten und schliesslich an einem Bahnhof, der bisweilen bis zu 30 km entfernt gelegen war, in einen Güterzug verbracht wurden.

 

Die aus dem Reichsgebiet, Österreich und insbesondere den westeuropäischen Ländern kommenden Transporte jüdischer Menschen wurden demgegenüber in Personenzügen gebracht; aus Gründen der Tarnung und um den Antransport von möglichst viel Wertsachen zu ermöglichen, wurden den Personenwagen oft genug ein oder zwei Güterwaggons angehängt, in denen die Habseligkeiten der Menschen mitgeführt wurden. Sie wurden schon beim Einladen in die Züge, während des Transportes und auch bei der Ankunft in dem jeweiligen Vernichtungslager wesentlich zurückhaltender als die aus Polen gebrachten Juden behandelt; bei ihnen war daher praktisch in keinem Fall so etwas wie Widerstand festzustellen. Ihnen gegenüber war die Tarnung vollständig gelungen. Bis etwa nach Westerbork in den Niederlanden und den anderen westeuropäischen Abgangsorten hatte sich nichts davon herumgesprochen, welch schreckliches Schicksal den Deportierten bevorstand.

 

Das für die "Aktion Reinhard" erforderliche Personal kam nach einem Bericht Globocniks, den er nach dem Ende der Aktion zusammengestellt hat und in dem auch sonstige Aufgaben seines Stabes beschrieben werden, aus unterschiedlichen Parteigliederungen und sonstigen Organisationen. Von den insgesamt 450 dem SS- und Polizeiführer Lublin unterstellten Männern kamen allein von der Kanzlei des Führers ("T4") 92 Männer. Diese wiederum bildeten das Hauptkontingent des deutschen Bewachungspersonals in den Vernichtungslagern. Sie waren damals zumeist zwischen 30 und 40 Jahre alt.

 

Alle zur "Aktion Reinhard" herangezogenen Kräfte wurden, soweit sie nicht schon zur SS gehörten, in Lublin in graue SS-Uniformen eingekleidet. Sie erhielten Dienstgrade der SS, die den Rängen entsprachen, die sie vergleichbar bei anderen NS-Formationen bekleidet hatten. Mit ihrem Einsatz in der "Aktion Reinhard" unterstanden all diese Leute der Befehlsgewalt ihrer Vorgesetzten in der hierarchischen Reihenfolge, z.B. von Globocnik über Höfle und Wirth, den Lagerkommandanten zum einzelnen Lagerbereichsführer. Ihr strafrechtlicher Status bestimmte sich in diesem Einsatz nach den Vorschriften des Militärstrafgesetzbuches in der Fassung vom 10.Oktober 1940, was durch folgende Verordnung geregelt wurde:

 

Nach §1 Ziffer 6 der "Verordnung über die Sondergerichtsbarkeit in Strafsachen für Angehörige der SS und für die Angehörigen der Polizeiverbände bei besonderem Einsatz" vom 17.Oktober 1939 wurde eine entsprechende Sondergerichtsbarkeit in Strafsachen begründet. §3 dieser Vorschrift bestimmte, dass im Geltungsbereich der Sondergerichtsbarkeit die Vorschriften des Militärstrafgesetzbuches sinngemäss anzuwenden seien, soweit nichts anderes bestimmt wurde. Ausser der gesamten Sicherheitspolizei (Kripo, Gestapo und SD) wurden später auch die Verbände der Schutzpolizei, Gendarmerie sowie Hilfsverbände zu Polizeiverbänden in besonderem Einsatz erklärt. Hiermit waren schon die Leute der "Aktion Reinhard", die - wie etwa die früheren Mitangeklagten Dub. 315 und Bol. 316 - aus der Waffen-SS kamen, oder diejenigen, die aus den Polizeieinheiten aus dem Arbeits- und Ausbildungslager

 

315 Siehe Lfd.Nr.642.

316 Bol. beging kurz vor Abschluss der Beweisaufnahme im Verfahren Lfd.Nr.642 Selbstmord.