Justiz und NS-Verbrechen Bd.XLVI

Verfahren Nr.892 - 897 (1984 - 1985)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.897 LG Hagen 04.10.1985 JuNSV Bd.XLVI S.543

 

Lfd.Nr.897    LG Hagen    04.10.1985    JuNSV Bd.XLVI S.554

 

aus kirchlichen Kreisen oder aus anderen Gründen, ist nicht letztlich gesichert. Die Tötungen wurden aber in Form der Einzeltötungen in verschiedenen Anstalten Deutschlands noch fortgesetzt, und zwar meist durch überdosierte Betäubungs- und Einschläferungsmittel, während in den Vernichtungsanstalten Kohlenoxydgas verwendet worden war: sogenannte "stille Euthanasie".

 

Ein weiterer Zweig der "Euthanasie-Aktion" war die sogenannte Kinder-Euthanasie. Für neugeborene Kinder mit schweren angeborenen Leiden und Missbildungen war angeordnet worden, dass sie bis zur Vollendung des 3., später 16.Lebensjahres, zu töten seien. In Kinderfachabteilungen wurden die Kinder dann eingeliefert und nach einer Beobachtungszeit von meist einigen Wochen durch Tabletten oder Spritzen getötet. Über die Gesamtzahl der auf diese Weise in Deutschland getöteten Kinder sind keine näheren Feststellungen möglich.

 

Die "Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege", die, wie bereits dargestellt, die finanziellen und verwaltungsmässigen Voraussetzungen für die Euthanasie-Aktion geschaffen hatte, stellte auch das Personal für die Tötungen in den Vernichtungsanstalten bereit. Auch der Angeklagte Frenzel gehörte, wie viele der später in den Lagern der "Aktion Reinhard" eingesetzten Wachmänner der "Gemeinnützigen Stiftung für Anstaltspflege" an, die einen Teil der Abteilung II der "Kanzlei des Führers", deren Sitz in Berlin, Tiergartenstrasse 4, war, darstellte und die dieserhalb auch den Namen "T4" trug. Gegen viele Teilnehmer der "Euthanasie-Aktion" haben nach Kriegsende Straf- und Ermittlungsverfahren geschwebt. Auch einige der Angeklagten des 1965 in Hagen verhandelten Sobibor-Verfahrens sind unter jenen gewesen, ohne jedoch verurteilt worden zu sein.

 

Auch gegen Frenzel und Wirth, den späteren Inspekteur der Vernichtungslager der "Aktion Reinhard", lief ein Ermittlungsverfahren wegen ihrer Beteiligung an der Euthanasie in Hadamar - 4 a Js 27/46 StA Frankfurt/Main -; in jenem Verfahren ist nach ihnen erfolglos gefahndet worden.

 

III. Der Endlösungsbefehl

 

1. Aufgabenstellung und organisatorischer Aufbau der "Aktion Reinhard"

 

Nach der Besetzung Westpolens - die deutsch-russische Demarkationslinie verlief von Norden nach Süden etwa gleich der Linie des Bug - gliederte die Reichsführung erhebliche Gebietsteile Polens dem Reich an. Durch Erlass Hitlers vom 12.Oktober 1939 wurde aus dem Rest Westpolens das "Generalgouvernement" gebildet mit den Distrikten Warschau, Radom, Krakau, Galizien und Lublin.

 

Die staatliche Gewalt lag bei dem Generalgouverneur Dr. Frank und bei dem "Vorsitzenden des Ministerrats für die Reichsverteidigung und Beauftragten für den 4-Jahres-Plan", Hermann Göring. Namentlich auf Betreiben Himmlers und Heydrichs ermächtige Hitler darüber hinaus auch die "Obersten Reichsbehörden", Anordnungen für das Generalgouvernement treffen zu können. Hierdurch gewannen direkt auch Himmler, als "Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei" und als "Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums" und Heydrich, als "Chef der Sicherheitspolizei und des SD" und als "Leiter des Reichssicherheitshauptamtes", Zuständigkeit und Eingriffsmöglichkeit in die Angelegenheit des Generalgouvernements, die Fragen der polizeilichen Aufgaben im weiteren Sinne wie auch "Angelegenheiten des Volkstums" betrafen. Beide erreichten auf diesen Gebieten praktisch alleinige Zuständigkeit, so sehr der Generalgouverneur Dr. Frank sich auch dagegen wehrte. Himmler setzte in den Distrikten jeweils einen SS- und Polizeiführer ein und unterstellte diese alle dem in Krakau amtierenden Höheren SS- und Polizeiführer, dem SS-Obergruppenführer Friedrich Krüger, der gleichzeitig Staatssekretär für Sicherheitswesen in der Regierung des Generalgouvernements war.