Justiz und NS-Verbrechen Bd.XLVI

Verfahren Nr.892 - 897 (1984 - 1985)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

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Lfd.Nr.897 LG Hagen 04.10.1985 JuNSV Bd.XLVI S.543

 

Lfd.Nr.897    LG Hagen    04.10.1985    JuNSV Bd.XLVI S.553

 

namhafte Vertreter, die sie befürworteten. Die Befürworter bejahten sie jedoch nur in engsten Grenzen und unter der Voraussetzung, dass die Tötungen aufgrund eines geordneten, mit allen Sicherheiten ausgestatteten Verfahrens erfolgten. Zu einer gesetzlichen Regelung haben diese Erörterungen niemals geführt.

 

Im nationalsozialistischen Staat erging nach Ausbruch des Krieges im Oktober 1939 ein Geheimerlass Hitlers, vordatiert auf den 1.September 1939, mit folgendem Inhalt:

 

"Reichsleiter Bouhler und Dr.med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann."

 

Aufgrund dieses Erlasses wurde durch das von SS-Oberführer Brack geleitete Amt II der Kanzlei des Führers mit Unterstützung der Gesundheitsabteilung des Reichsinnenministeriums die Tötung von Geisteskranken, Geistesschwachen und Epileptikern durchgeführt, im folgenden "Euthanasie-Aktion" genannt. Dazu wurden als Einrichtungen geschaffen die "Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten" in Berlin, die "Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege" in Berlin sowie die "Gemeinnützige Krankentransport GmbH" in Berlin; sie hatten die organisatorischen und medizinischen, insbesondere wirtschaftlichen Voraussetzungen für die "Euthanasie-Aktion" in bestimmten Heil- und Pflegeanstalten zu erbringen. Die Bezeichnung der Einrichtungen diente offensichtlich der Tarnung. Die im Verlauf der Zeit ergehenden Erlasse und Verfügungen liefen regelmässig als "Geheime Reichssache". Das Personal wurde unter schwerster Strafandrohung zur strengsten Verschwiegenheit verpflichtet.

 

In umfangreichen Erlassen wurde festgelegt, welche Kranken zu melden waren, nämlich solche, die an Krankheiten litten wie Schizophrenie, Epilepsie, senile Erkrankungen, Schwachsinn jeder Ursache usw., oder die sich seit mindestens 5 Jahren dauernd in der Anstalt befanden oder als kriminelle Geisteskranke verwahrt waren oder nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besassen: dies alles bezog sich auf Pfleglinge in den Anstalten.

 

Der eigentliche Zweck der Meldebogen wurde verschwiegen, so dass die Anstaltsleiter meist in dem Glauben waren, es handele sich um eine rein statistische Erfassung oder um die Heranziehung Arbeitsfähiger zum Kriegseinsatz. Letzteres veranlasste manche Anstaltsleiter sogar, die Arbeitsfähigkeit ihrer Pfleglinge möglichst niedrig anzusetzen, um auf diese Weise die notwendigen Arbeitskräfte für ihren Anstaltsbetrieb zu erhalten. In Wahrheit dienten die Meldebögen der Entscheidung, welche Kranken zu töten waren. Die Meldebögen wurden jeweils Gutachtern vorgelegt, meist Psychiatern. Diese entschieden unabhängig voneinander, ob die Kranken getötet werden sollten. Bejahten sie dies übereinstimmend, so wurde noch ein Obergutachten eingeholt. Bejahte dies ebenfalls die Tötung, so kam der Kranke auf die Tötungsliste. Die Namen der zur Tötung vorgesehenen Kranken wurden in Transportlisten zusammengestellt. Anhand dieser Listen wurden die ausgewählten Menschen den Vernichtungsanstalten überstellt.

 

Derartige Vernichtungsanstalten befanden sich in Grafeneck, in Brandenburg/Havel, in Bernburg/Saale, Hartheim bei Linz, in Sonnenstein bei Pirna und in Hadamar bei Limburg. Diese Anstalten waren teils gleichzeitig, teils auch nacheinander in Betrieb.

 

Die "Euthanasie-Aktion" wuchs sich zu einer Massentötung in diesen Anstalten aus, die mit einer Sterbehilfe oder einem Gnadentod im Sinne der zu Beginn genannten Erörterungen nichts mehr zu tun hatte. In Deutschland wurden auf diese Weise mindestens 70.000 Menschen umgebracht. Ende 1941 wurden die Tötungen in diesen Vernichtungsanstalten auf Befehl Hitlers abgebrochen; ob aufgrund der immer stärker werdenden Proteste insbesondere