Justiz und NS-Verbrechen Bd.XLVI

Verfahren Nr.892 - 897 (1984 - 1985)

Prof. Dr. C.F. Rüter, Dr. D.W. de Mildt
© Stichting voor wetenschappelijk onderzoek van nationaal-socialistische misdrijven, Amsterdam

> zum Inhaltsverzeichnis

Lfd.Nr.897 LG Hagen 04.10.1985 JuNSV Bd.XLVI S.543

 

Lfd.Nr.897    LG Hagen    04.10.1985    JuNSV Bd.XLVI S.552

 

daher unentbehrlich erschien. Der Befehl schloss die Erschiessung von Frauen und Kindern ein. Dies wurde von Himmler damit begründet, es müsse verhindert werden, dass dem deutschen Volke eines Tages Rächer entstünden. Dem Befehl folgten in den eroberten Gebieten der Sowjetunion zahlreiche Massenerschiessungen, denen in den einzelnen Operationsgebieten der Einsatzgruppen zehntausende jüdische Frauen und Kinder sowie Männer zum Opfer fielen.

 

Gleichzeitig mit diesen Aktionen in Russland wurde damit begonnen, die Vernichtung der im übrigen Machtbereich Hitlers lebenden Juden zu planen und vorzubereiten. Im Juli 1941 richtete Göring als Beauftragter für den 4-Jahres-Plan und Vorsitzender des Ministerrates für die Reichsverteidigung ein Schreiben an den Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Reinhard Heydrich, worin er ihn beauftragte, alle erforderlichen Vorbereitungen in organisatorischer, sachlicher und materieller Hinsicht für die Gesamtlösung der Judenfrage zu treffen und in Bälde einen Gesetzentwurf für die erforderlichen Vorausmassnahmen zur Durchführung der angestrebten "Endlösung der Judenfrage" vorzulegen. Auf Einladung Heydrichs fand am 20.Januar 1942 am Grossen Wannsee bei Berlin eine Staatssekretärbesprechung der zuständigen Behörden, die sogenannte "Wannsee-Konferenz" statt. Auf dieser Konferenz erläuterte Heydrich, dass anstelle der Auswanderung nunmehr als weitere Lösungsmöglichkeit nach entsprechender vorheriger Genehmigung durch Hitler die Evakuierung der Juden nach dem Osten getreten sei. Er machte deutlich, dass dies jedoch nur eine Ausweichmöglichkeit im Hinblick auf die kommende "Endlösung der Judenfrage" sei und im Zuge dieser "Endlösung" der europäischen Judenfrage rund 11 Millionen Menschen in Betracht kämen. Diese sollten unter Trennung der Geschlechter in grossen Arbeitskolonnen, die arbeitsfähigen Juden strassenbauend, in den Arbeitseinsatz kommen, wobei ein Grossteil zweifellos durch natürliche Verminderung ausfallen werde. Der Rest müsse "entsprechend behandelt werden". Im Zuge der praktischen Durchführung der "Endlösung" werde Europa von Westen nach Osten durchgekämmt unter Vorwegnahme des Reichsgebiets und des Reichsprotektorates Böhmen und Mähren.

 

Damit war, wenn auch noch in ein wenig verschleierter Form, so doch den Anwesenden klar verständlich gesagt, dass nunmehr die vollständige Vernichtung der Juden in Angriff genommen werden solle und dass Hitler selbst die Anordnung hierzu gegeben habe. Ferner war gesagt, dass die Juden aus den westeuropäischen Ländern zum Zwecke ihrer Vernichtung in die besetzten Ostgebiete deportiert werden sollten. Ziel der Deportation und Ort der Vernichtung sollte vor allem Polen sein. Zwischenzeitlich hatte die als "Umsiedlung" getarnte zwangsweise Austreibung der Juden aus dem Reich schon mit dem Deportationsbefehl vom 20.Oktober 1941 in grösserem Umfange begonnen, während die bis dahin mit allen Mitteln vorangetriebene mehr oder weniger freie Auswanderung zunächst eingeschränkt und dann ganz verboten worden war. Aus zahlreichen deutschen Städten fuhren Deportationszüge mit je etwa 1.000 Menschen nach Osten. Ziele dieser Transportzüge waren zunächst Lodz und später Warschau, Kowno, Minsk und Riga. Die Insassen dieser Transporte wurden an ihren Zielorten entweder vorerst in Ghettos verbracht oder - nämlich in Kowno und Riga - von dort tätigen Einsatzgruppen erschossen.

 

2. Das Euthanasie-Programm

 

So wie sich die nationalsozialistische Führungsspitze aus den ideologischen Vorstellungen eines verblendeten und sittlich auf tiefster Stufe stehenden Rassenantisemitismus heraus seit 1920 soweit entwickelt hatte, dass sie schliesslich die geplante Vernichtung der Juden unter gleichzeitiger und restloser Ausbeutung aller deren Wirtschafts- und Vermögenswerte betrieb, hatte auch die Frage der Vernichtung "lebensunwerten Lebens" schon vor der "Machtübernahme" durch Hitler wiederholt in juristischen, medizinischen und theologischen Kreisen Erörterung gefunden. Wenn die Vernichtung "lebensunwerten Lebens" auch meistens aus weltanschaulichen und rechtspolitischen Gründen abgelehnt wurde, so fanden sich doch auch